Frau Fischli hat am Morgen schon in der Praxis angerufen. „Mein Sohn ist gestern beim Snowboarden aufs Handgelenk gefallen. Wir haben es mit Salbe versucht, aber er benutzt seinen Arm überhaupt nicht mehr, drum würde ich das gerne zeigen kommen.“ Sie erhält einen Termin am Rand der Sprechstunde, weil sie vorher noch arbeiten muss. Soweit, so gut.
Es ist kurz nach 5, ich bin schon fast in Feierabendstimmung, als sie kommen. Der Sohn, Nathanael Fischli, ist 8 Jahre alt. Ich begrüsse ihn, seine Mama und seine Schwester und nehme sie gleich ins Röntgenzimmer mit, der Einfachheit halber. Er schaut mich misstrauisch an, spricht nicht mit mir. Wenn ich ihm eine Frage stelle, guckt er seine Mama an, die dann für ihn antwortet – selbst Fragen wie „Tut das weh, wenn ich so mache?“, bei denen Mama Mühe habe dürfte, die richtig zu beantworten. Überhaupt macht er einen seltsamen Eindruck auf mich. Mit 8 ist er durchaus alt genug, um zu sprechen und zu interagieren, auch mit Fremden. Und bei Kindern habe ich als junge, kleine Frau normalerweise den Vorteil, dass ich nicht so beängstigend wirke, wie der ehrvolle alte Herr Doktor. Bei Nathanael allerdings dringe ich überhaupt nicht durch. Naja, kann ja nicht immer passen.
Nach dem Untersuch halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass das Handgelenk gebrochen ist. „Also, dann machen wir doch kurz ein Röntgenbild, dann wissen wir nachher mehr.“
Die Mutter wirkt wie versteinert. „Ist das denn wirklich nötig? Wir sind nicht so Fans von Strahlung.“
„Ja, ist es.“, sage ich, sehe aber ein, dass diese Antwort nicht besonders zufriedenstellend ist. „Ich muss wissen, ob es gebrochen ist, oder nicht, weil wir es dann jenachdem gipsen müssen. Und leider habe ich den Röntgenblick noch nicht“, versuche ich zu scherzen. Kommt so mässig gut an.
„Aber gehts nicht auch ohne?“, fragt Frau Fischli.
Ich bin schon ein bisschen erstaunt. Normalerweise, wenn Patienten irgendeine verletzte Extremität zeigen kommen, dann eben genau, weil sie ein Röntgenbild wollen, um sicher zu sein, dass nichts gebrochen ist. Was hat sie denn von diesem Besuch erwartet?
„Ich kanns auch einfach gipsen, ohne Röntgenbild.“, schlage ich vor, nicht ganz ernst gemeint, und grinse. Das kommt an. Mama ist nun doch einverstanden.
„Also Nathanael, das ist gar nicht so schlimm.“ Wie, gar nicht so? Es ist ein Foto. Das tut nicht weh, das macht garnix. Hallo? „Du bekommst jetzt eine Decke, um dich vor den bösen Strahlen zu schützen.“ Sie schaut vorwurfsvoll und auffordernd in meine Richtung. Ich ignoriere sie grosszügig und rufe die Praxisassistentin. Die macht das mit dem Röntgen eh besser als ich. Sie montiert den Röntgenschurz. Erst nachdem dies geschehen ist, ist Mama zufrieden und verlässt auf Aufforderung den Raum.
Im Röntgen zeigt sich ein Bruch der Speiche mit deutlicher Knickbildung. Allerdings ist es vom Winkel her grade ganz knapp noch nicht operationspflichtig. Ich bespreche den Befund mit Frau Fischli, und kann mir dabei nicht verkneifen, zu betonen, dass sich das Röntgenbild ja nun doch gelohnt hat.
Frau Fischlin will alles ganz genau wissen. Sie fragt mich detailliert, was genau denn bei mir den Eindruck ausgelöst hat, dass es gebrochen sei, wo ich genau gedrückt habe, wie ich es genau untersucht habe. Das macht mich misstrauisch. Ich befürchte, sie würde es nächstes Mal einfach selbst versuchen. Naja, nicht mein Kind, nicht mein Problem.
„Ja wissen Sie, er hat ja gar keine Schmerzen angegeben! Da dachte ich, so schlimm kanns ja nicht sein, wenn er keine Schmerzen hat.“
Falsch. Er hat seinen Arm geschont, deswegen hat sie ihn ja bei uns vorbeigebracht. Wenn er keine Schmerzen hätte, würde er den Arm ja wohl normal gebrauchen – natürlich tuts weniger weh, wenn er es sebst ruhig hält. Ist ja klar.
Zum Schluss kommt noch meine Lieblingsfrage. „Also snowboarden kann er ja nun nicht mehr. Aber skifahren vielleicht? Dabei fällt er eigentlich nie um.“
Mhm, ‚eigentlich‘. Ich erkläre ihr, dass der gebrochene Arm Ruhe braucht, um selber zusammenzuwachsen. Sportverbot und Gips, 4 Wochen. „Das geht sowieso nicht, wir können nicht stillsitzen.“, gibt sie Bescheid.
Whatever, lady.
„Brauchen Sie eine Turndispens für die Schule?“
„Nein, weil, wir sind halt was Besonderes, gell Nathanael? Wir machen Homeschooling.“
Ich freu mich schon darauf, ihr morgen bei der Gipskontrolle zu sagen, dass wir in ein paar Tagen noch ein Röntgen machen wollen, um sicher zu sein, dass sich das nicht noch mehr verschiebt.
Wozu kommt sie überhaupt zum Arzt, wenn sie dann sowieso jede einzelne Aussage anzweifelt und am Ende einfach das macht, was ihr in den Kram passt?