Vom Rettungsdienst wird eine „junge Frau mit Panikattacke“ angemeldet – aus dem Asylzentrum ein paar Dörfer weiter.
Diese Patienten sind häufig schwierig zu behandeln, weil es schwierig ist, sich mit ihnen zu verständigen. Sie sprechen kaum Englisch, geschweige denn natürlich eine unserer Landessprachen. Wenn jemand zum Übersetzen mitkommt, spricht auch der meist nur schlecht Deutsch oder Englisch. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede, zum Beispiel, wenn sich Frauen nicht von Männern untersuchen lassen. Und Panikattacken mag ich sowieso nicht. Da kann man kaum was machen ausser beruhigen, und dafür muss man nun wirklich nicht ins Spital. Ich bin echt schlecht mit psychiatrischen Sachen, da ist Kommunikation und Erfahrung gefragt, beides Dinge, die man nicht vom Studium mitbringt. Ich gehe also schon mal nicht allzu begeistert auf die Situation zu.
Die etwa 25jährige Somalierin kommt also an, sie atmet schnell, ihre Augen sind aufgerissen, sie klammert sich an der Liege fest. Verständlich. Ihr geht es sonst schon schlecht, und nun wurde sie auch noch von zwei fremden Männern auf eine Trage in ein Auto gepackt und aus ihrem wenigstens einigermassen bekannten Umfeld herausgerissen, hinein ins sterile, unendlich fremde Spital. Begleitet wird sie von einem Mann im mittleren Alter, den wir schon kennen. Ebenfalls Asylant, begleitet er häufig Patienten zu uns, um zu übersetzen, da er recht gut Englisch und Französisch spricht. Er hält die Hand der jungen Frau, und spricht mit sanfter Stimme zu ihr.
Auf meine Ansprache reagiert sie kaum. Wir schreiben ein EKG, um Herzprobleme auszuschliessen, danach bekommt sie eine Beruhigungstablette. Nach einer Weile atmet sie besser. Mein Ziel ist, sie möglichst schnell wieder zurückzuschicken.
Auf meine Frage, was denn das Problem ist, beginnt ihr Begleiter zu erzählen. Die Frauen im Heim essen nicht richtig, sagt er. Sie mögen das Frühstück nicht, es ist zu fremd, sie bekommen Bauchschmerzen. Es sind zuviele Leute im Heim, zuviel Aufruhr, Kinder rennen herum, niemand kommt zur Ruhe, es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten. Sie will doch einfach nur ein bisschen Ruhe, ein bisschen Zeit für sich. Sie habe niemanden dort, berichtet er, sie sei alleine in die Schweiz gekommen.
Ich zucke innerlich mit den Schultern. Wenigstens haben sie ein Dach über dem Kopf und Essen, denke ich. An anderen Orten würden sie in kleinen schmutzigen Zelten gelagert, wenn überhaupt, hätten zuwenig zu essen, keine medizinische Versorgung oder saubere sanitäre Anlagen. Wir alle haben die Bilder gesehen aus Griechenland, Serbien, Ungarn. Das ist hier schon Meckern auf hohem Niveau, denke ich.
Der Begleiter geht noch zum Enpfang, um ein paar Formalitäten zu erledigen. Ich bin allein mit der jungen Frau, die mich nicht versteht, und ich sie auch nicht. Ich helfe ihr aus dem Pullover, um eine Leitung zu legen.
Ihr rechter Arm ist übersät mit Brandnarben, nicht ganz frisch, aber weniger als ein Jahr alt. Im Ellbogen haben sich Stränge gebildet. Wahrscheinlich kann sie ihren Arm nicht ganz ausstrecken.
Sie beobachtet mich mit immernoch weit aufgerissenen, ängstlichen Augen, während ich den Zugang am unversehrten Arm lege. Sie reagiert nicht auf den Stich, nicht einmal ein kleines Zucken oder ein Klagelaut entweichen ihr.
Ich verspüre Demut und Scham. Wer weiss schon, was die junge Frau, nur ein paar Jahre jünger als ich, schon alles durchgemacht hat, wie sie hierhergekommen ist, wo ihre Familie ist? Wer weiss, was und wen sie zurückgelassen hat, was sie gesehen und erlebt hat? Wer weiss, welche psychischen und physischen Probleme sie sonst noch hat? Krieg und Flucht haben bei ihr sicherlich nicht nur Narben am Arm hinterlassen. Und hier sitze ich, mit meiner guten Ausbildung und meinem Traumjob, meiner intakten Familie, in Sicherheit, Geborgenheit und Wärme, im Land, in dem ich aufgewachsen bin, und wage es, zu urteilen.
Ich entscheide mich, die Patientin für mindestens eine Nacht aufzunehmen, damit sie hier vielleicht ein bisschen zur Ruhe kommen kann – auch wenn es streng medizinisch genommen vielleicht nicht unbedingt nötig wäre. Mein Hintergrund hat nichts dagegen.
Wir alle haben Vorurteile, Vorstellungen, wie bestimmte Dinge sein sollen – und eine Meinung zu Dingen, von denen wir keine Ahnung haben. Das alles ist menschlich. Wir sind keine Heiligen, und ich finde, es ist nichts, wofür man sich schämen muss – solange man Augen und Herz offen hält und sich eines Besseren belehren lässt.
„Prejudice is the child of ignorance.“ – William Hazlitt.