Im Rahmen meiner Weiterbildung zur Fachärztin Anästhesie verlangt die Schweizer Ärztegesellschaft, dass ich mehrere verschiedenen Stationen absolviere: Einerseits muss meine Ausbildung an mindestens zwei verschiedenen Spitälern stattfinden, wovon eines ein Spital der höchsten Kategorie, also ein Zentrumsspital oder Maximalversorger, ist. Ausserdem muss ich in den insgesamt fünf Jahren Ausbildung mindestens ein halbes (maximal aber ein ganzes) Jahr auf einer Intensivstation gewesen sein.
Damit war ich beim neuen Stellenantritt auf halbem Weg zum Facharzt: Zwei Jahre Anästhesie und ein halbes Jahr Intensivstation habe ich schon, fehlen noch zweieinhalb Jahre.
Ich weiss noch gut, wie nervös ich vor dem Bewerbungsgespräch war – völlig unnötig, aber sowas kann man halt nicht einfach abstellen. „Die können dich gar nicht abweisen“, sagte mir ein Kollege. „Die haben so krassen Personalmangel, die können sich nicht leisten, jemanden nicht zu nehmen, vor allem nicht jemanden wie dich, mit Erfahrung. Weisst du, wie wertvoll du für die bist? Die können dich in einen Saal stecken und du funktionierst. Minimaler Aufwand ist das für die.“
Der Kollege hatte sein Bewerbungsgespräch ein paar Monate vor mir und bekam die Stelle, also fühlte ich mich wenigstens ein bisschen besser, aber die Nervosität blieb, und stieg sogar noch etwas an, als mir mein Chef ein paar Tage vor dem Gespräch freudestrahlend mitteilte, ein leitender Arzt des Zentrumsspitals habe ihn gerade angerufen, um meine Referenzen einzuholen. Meine Bewerbung an spezifisch diesem Spital (einer Uniklinik) war die Idee meines Chefs gewesen, er hatte es mir als beste Option für meine Karriere ans Herz gelegt, und er fieberte mit mir mit und bot mir zur Üung sogar einen „Probelauf“ fürs Bewerbungsgespräch an.
Das Bewerbungsgespräch (insgesamt etwa eineinhalb Jahre vor meiner Anstellung, ist also schon eine ganze Weile her) empfand ich als seltsam.
Es begann damit, den leitenden Arzt, Professor Doktor G. Mütlich, der am Institut für die Einstellung neuer Assistenzärzte zuständig ist, nur mit Namen ansprach, weil es mir generell zu dumm ist, Titel zu sagen („Grüezi Herr Mütlich, freut mich, Sie kennenzulernen“), er mich gleichzeitig jedoch mit „Grüezi Frau Doktor Gramsel“ begrüsste – wobei ich nicht mal einen Doktortitel habe und entsprechend nur Frau Gransel bin. Wow. Massives Fettnäpfchen meinerseits. Da hatte ich schon mal das Gefühl, es sei gelaufen.
Herr Mütlich hatte offensichlich meine Unterlagen kein bisschen durchgelesen und schien auch nicht wirklich gewillt, sie anzuschauen, obwohl sie direkt vor ihm lagen, und riet so ein bisschen ins Blaue.
„Sie sind also frisch ab Staatsexamen?“
In meinem Lebenslauf stehen alle meine vorherigen Anstellungen und das Datum meines Staatsexamens. Und hatte er nicht vor ein paar Tagen erst meine Referenzen eingeholt?
„Nein, ich habe das Examen 2015 gemacht.“
„Wo haben Sie denn studiert?“
Steht auch in meinem Lebenslauf. Hach. Aber selbstverständlich gab ich brav und höflich Antwort. Einen besonders guten Eindruck machte das bei mir nicht, und ich war etwas genervt, liess mir aber natürlich nichts anmerken. Ich wollte diese Stelle. Unbedingt.
Wir redeten ein bisschen über das Studium und meine vergangenen Arbeitsjahre, meine Erfahrungen, er fragte mich über meine erste Stelle im Feld-Wald-WiesenSpital aus. Ihm gefiel, wie breit ich dort ausgebildet wurde – wer hier schon eine Weile liest, erinnert sich vielleicht, dass ich damals auf der Chirurgie angestellt war, nachts und am Wochenende jedoch interdisziplinär arbeitete und somit auch Innere und Gynäkologie abdecken musste.
Irgendwann sprachen wir dann über die Arbeit im Zentrumsspital selbst.
„Bei uns ist Forschung ein grosser Schwerpunkt. Könnten Sie sich vorstellen, zu forschen?“
„Ja, auf jeden Fall. Ich würde gerne noch eine Dissertation machen.“
Das war gelogen. Ich will eigentlich keine Dissertation machen – ich bin der Meinung, dass Laborarbeit und Datensammeln mich, im Gegensatz zur Arbeit direkt am Patienten, nicht zu einer besseren Ärztin machen. Ich weiss aber auch, dass die allermeisten Patienten nach wie vor denken, man sei kein richtiger Arzt ohne Doktortitel. Gerade als Frau wird mir das wohl schon ein bisschen helfen in Zukunft, also habe ich mich zähneknirschend mit dem Gedanken abgefunden, vielleicht doch noch den Titel machen zu müssen.
Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wie, Sie haben keine Dissertation? Hui, das ist aber ganz schlecht.“
Mir rutschte das Herz in die Hose. „Ganz schlecht?“, krächzte ich.
Er lachte leicht herablassend. „Naja, also für die Anstellung ist es ja Wurscht. Aber wenn Sie hier Oberärztin werden wollen, brauchen Sie schon einen Doktortitel. Und wann wollen Sie den denn machen?“
Die Gegenfrage, woher er denn wisse, dass ich hier überhaupt Oberärztin werden wolle, verkniff ich mir.
Fünf Minute später bot er mir die Stelle an und besiegelte es mit Handschlag – damit war die Anstellung rechtsgültig. Zwei Wochen später kam eine Anstellungsbestätigung mit der Post. So einfach war das.