Hand in Hand

Es war einer dieser Tage.

Einmal mehr waren wir unterbesetzt wegen zwei Krankheitsausfällen. Eigentlich hatten wir Personal für zwei OP-Säle, es liefen aber drei. Und natürlich waren es keine schön lange Eingriffe, sondern viele kurze, was natürlich viel der höhere Aufwand ist wegen der ständigen Wechsel.

Ab Nachmittag sollte dann auch noch ein vierter Saal laufen. Mit dem vorhandenen Personal war das nicht abzudecken, weshalb auch ich noch in den OP beordert wurde – meine Sprechstunde wurde für den Moment geschlossen.

Die Stimmung war auf dem Nullpunkt. OP-Pflege, Anästhesie, Lagerung, alle waren angespannt, gestresst, mies gelaunt, und warteten schweigend auf den Chirurgen, der den Leistenbruch des Patienten laparoskopisch, also in Schlüssellochtechnik, mit einem Netz versorgen sollte.

Dann betrat der Chirurg den Saal. Einer meiner Liebsten, ein ruhiger, geschickter Mann. „Einen wunderwunderschönen guten Morgen“, verkündete er heiter. „Mensch, da ist ja schon alles vorbereitet, was ist das denn! Ist ja super, vielen Dank! Lasst uns loslegen!“

Sogleich wird die Stimmung im Saal spürbar besser. Er sprüht vor guter Laune. Wo hat er die denn bitte her? Ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit, und ich merke, wie die Anspannung nachlässt.

Als er den Hautschnitt macht und ihm der OP-Pfleger einen Haken hält, fällt mir auf, wie alleine der Chirurg ist. „Hast du keinen Assistenten?“, frage ich erstaunt. Muss der arme Kerl jetzt etwa alleine operieren?

„Na klar!“, ruft er heiter aus. „Der wurde mir wegrationalisiert. Braucht’s ja auch gar nicht, ne?“ Er schmunzelt. Seine gute Laune ist ansteckend.

Nach Anlage des ersten „Schlüssellochs“ kommt die Kamera in den Bauch des Patienten. Der OP-Pfleger hält die Kamera, der Chirurg präpariert sich den zweiten Zugang. So arbeiten wir ein paar Minuten, bis plötzlich die Tür aufgeht und eine chirurgische Assistenzärztin im Saal steht, die der OP-Koordinator hat doch noch irgendwo hat auftreiben können.

Um sie steril einzukleiden, muss der Pfleger allerdings die Kamera loslassen. So kann der Chirurg aber nicht operieren, denn er kann nicht gleichzeitig die Kamera und zwei Instrumente führen.

Hier kann ich übernehmen: Ich greife vom Kopf des Patienten her unter das sterile Tuch und umfasse mitsamt dem Tuch die Kamera. Das erfordert keinerlei Übergriff in das sterile Operationsfeld. Natürlich bin ich damit nicht flexibel, denn ich halte die Kamera ja mit dem Tuch, aber für den Moment reicht es aus, da ich die Kamera sowieso nur still und gerade halten muss. Ich muss schon wieder schmunzeln – es ist eine Weile her, seit ich eine solche Kamera in den Händen hatte. Zwei Jahre, um genau zu sein.

Der Chirurg ist begeistert. „Wir kommen ja richtig vorwärts hier!“ Ich schaue ihm zu, wie er vorsichtig Gewebe zur Seite schiebt und sich langsam, aber sicher vom Bauchnabel aus in Richtung der Leisten vorarbeitet. Links von mir steht der Monitor mit den Überwachungswerten des Patienten, der tief und friedlich in Narkose ist. Alles läuft prima. Das EKG piepst regelmässig vor sich hin, Blutdruck ist im Normbereich, Sauerstoffsättigung ebenfalls. Alle gemessenen Werte sind so, wie ich sie gerne haben möchte.

Natürlich piepst in diesem Moment die Propofolpumpe und verlangt energisch einen Spritzenwechsel. Dafür assistiert mir die Springerin, die nicht-sterile OP-Pflege. Mithilfe kurzer Anweisungen meinerseits wechselt sie die Spritze, die Narkose läuft weiter und der Chirurg erkundet weiter den Bauch.

So vergehen vielleicht zwei, drei Minuten, bis die Assistenzärztin fertig eingekleidet und bereit ist. Dann kann die Operation normal weitergehen, sie übernimmt die Kamera, ich kann mich wieder zurücklehnen und der Operation zuschauen. Operation und Narkose verlaufen komplett reibungslos bis zum Schluss, alle sind zufrieden.

Besonders beeindruckt hat mich daran, wie viel es ausgemacht hat, dass der Chirurg mit einer guten Laune den Saal betreten hat. Die Stimmung war angespannt, aber seine paar netten Worte und ein bisschen Humor haben uns alle für ihn gewonnen. So haben wir alle Hand in Hand gearbeitet.

Ehrlich schläft am besten

Herr Min kommt zur Hämorrhoidenentfernung. Er ist 32 Jahre alt und gesund. Er raucht seit über 15 Jahren bis zu zwei Päckchen Zigaretten pro Tag, hat keine Allergien und nimmt keine Medikamente.

Soweit, so gut.

Zur Narkose kommt er leicht nervös, was natürlich völlig normal ist. Meine Oberärztin und ich plaudern mit Herrn Min, lenken ihn ab, bis wir die ganzen Vorbereitungen abgeschlossen haben, und starten dann mit der Narkose.

Junge Männer brauchen mehr Narkosemittel als alte, das ist logisch. Wir leiten die Narkose mit einer hohen Dosis ein und müssen dann nochmal ein bisschen steigern, als er immer noch mit den Füssen wackelt, als ich ihm die Larynxmaske zur Beatmung in den Mund schieben will.

Im OP-Saal kommt dann die erste Überraschung: Der Patient hustet, als der OP-Assistent ihn zu desinfizieren beginnt. Das bedeutet, der Patient schläft zwar, aber sein Körper reagiert noch auf Reize – die Narkose ist, wie man sagt, zu flach. Ich steigere nochmal alle Medikamente, gebe mehr Opiate und warne dann die Chirurgin vor, als sie den Saal betritt.

„Hör mal Andrea, der braucht jetzt schon enorm viel und du hast ihn noch nicht mal angefasst. Ich muss mich da ein bisschen herantasten, ja? Sag mir Bescheid, wenn was nicht gut ist.“

Andrea hat gute Laune und ist geduldig. Nochmal und nochmal muss ich die Narkose vertiefen, während sie an den Hämorrhoiden schnippelt, und trotzdem hustet der Patient und wackelt mit den Füssen, ich geb mehr und mehr Propofol, Opiate und schliesslich sogar Gas – bis ich schliesslich am Verzweifeln bin und meine Oberärztin wieder dazu rufe: „Ich krieg den nicht still!“

Andrea beobachtet mich leicht belustigt bei meinen Mühen. „Woran liegt das denn, dass der nicht ruhig liegen will?“

In der Regel ist es Drogenkonsum – Cannabis, Kokain, Heroin, Amphetamine und so weiter. Der Patient hat aber in der Sprechstunde ausdrücklich angegeben, keine Drogen zu konsumieren.

Wie das so üblich ist, liegt der Patient endlich still, als die Oberärztin in den Saal kommt. Jetzt kann die Chirurgin endlich richtig loslegen – und ist nach wenigen Minuten schon fertig. Ich kann alle Medikamente abstellen und warte darauf, dass Herr Min erwacht.

Als Herr Min ausreichend wach ist, ziehe ich ihm die Larynxmaske aus dem Mund und bringe ihn auf die Überwachungsstation. Er ist noch etwas müde von den Medikamenten, quasselt aber ohne Pause. „Haben Sie operiert? Wer hat operiert? Wie hat das ausgesehen? Wie sieht das jetzt aus? Wo ist die DVD?“

Öhm. „Welche DVD?“

Herr Min: „Na die von meiner Operation, die DVD.“

„Da gibt’s keine DVD, die Operation wurde nicht gefilmt.“

„Was? Warum nicht?“

Äh… Weil so was keiner sehen will vielleicht?

Bevor ich antworten kann, murmelt er „Oh, ich habe vergessen Ihnen zu sagen… Ich vertrage kein Morphin. Davon juckt’s mich überall.“

„Ach, gut, dass Sie das sagen, das vermerke ich gleich noch.“

Unvermittelt grinst er schelmisch. „Ketamin vertrag ich aber gut.“

Solche Aussagen sind immer sehr suggestiv – ich frage aber noch nach: „Ketamin? Nehmen Sie das denn manchmal?“

„Ja natürlich, immer im Ausgang und so!“

Na, das erklärt alles… Ich ärgere mich. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich andere Medikamente gewählt für die Narkose.

„Wenigstens bin ich diesmal nicht aufgewacht“, fährt er fort.

„Wie, aufgewacht? Sind Sie mal während der Narkose aufgewacht?“

„Ja, bei einer Schulteroperation letztes Jahr, war nicht so lustig…“

Das glaub ich – kommt aber davon, wenn man seinen Anästhesisten anlügt. Sein Narkosemittelverbrauch war etwa das vier- oder fünffache von dem, was ein Durchschnittspatient braucht. Wenn der Patient dann noch relaxiert ist, also Medikamente zur Muskellähmung bekommt, kann das in seltenen Fällen eben auch mal nicht auffallen. Von mir hat der  Patient keine solcher lähmenden Medikamente bekommen, weshalb sein Körper mit abwehrenden Zuckungen reagiert hat. Das war für mich das Signal, dass die Narkose nicht ausreichte. Ohne diese Zuckungen kann es auch mal schwieriger werden, die Zeichen richtig zu deuten.

Nachdem ich Herrn Min auf der Überwachung abgegeben habe, erzähle ich meiner Oberärztin von diesem Gespräch, und sage ihr auch, dass ich beabsichtige, ihn später, wenn er richtig wach ist, nochmal zu besuchen und ihm einzuschärfen, das nächste Mal seinen Anästhesisten vorzuwarnen. Dazu komme ich jedoch gar nicht – meine Oberärztin übernimmt diese Aufgabe gern für mich.

Nochmal: Es geht nicht darum, jemanden zu verurteilen oder wegen seines Drogenkonsums zu belehren. Aber wer seinem Anästhesisten Dinge verschweigt, riskiert Narkosekomplikationen. Selbst Schuld, Pech gehabt, könnte man sagen, aber es geht mich eben doch etwas an: Ich bin schliesslich diejenige, die den Stress hat, und ich finde das nicht besonders lustig.

 

 

Sicherheit im Spital: OP-Checklisten

Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler.

Nun ist es aber so, dass nicht jeder Fehler gleich schlimme Folgen hat. Wenn ich im Supermarkt Bananen wäge, aber die falsche Nummer drücke und die Waage den Preis für Aprikosen berechnet, dann hat das in der Regel keine schlimmen Folgen.

Im Spital ist das anders. Hier können Fehler im schlimmsten Fall für Patienten bleibende Schäden verursachen oder zum Tod führen. Daher setzen Spitäler viel daran, die Sicherheit für Patienten zu verbessern. Wir orientieren uns da stark an der Luftfahrt. Auch hier können Fehler schreckliche Folgen haben, weshalb viele Vorschriften, Protokolle und Checklisten erarbeitet wurden. In den nächsten Wochen möchte ich deshalb das Thema Sicherheit im Spital etwas in den Vordergrund stellen, Dinge erklären und Geschichten dazu erzählen.

2001 wurde im Kanton Tessin einem Patienten das falsche Bein amputiert. Ein Super-GAU, welcher die Grundlage für viele Veränderungen war. Eine davon war die Einführung von Operationschecklisten, wie sie die WHO vor etwas über 10 Jahren (erst!) eingeführt hat.

Die Checkliste wird an verschiedenen Stellen durchgeführt: Auf Station, bei der Übergabe der Stationspflege an das Anästhesiepersonal, vor der Operation und nach der Operation. Dabei werden an mehreren Positionen die gleichen Fragen gestellt, einfach nur, um sicher zu sein. Erstaunlicherweise kommt das bei den Patienten selber meist so mässig gut an – sie sind eher irritiert, weil sie nun schon zum dritten Mal ihren Namen sagen müssen, und zeigen gelegentlich auch wenig Verständnis, wenn man ihnen erklärt, dass das ihrer Sicherheit dient.

Wie so ein Ablauf aussieht, möchte ich an Herrn Max Muster aufzeigen, der zum Einbau einer Knieprothese hier ist.

Auf Station prüft die Pflegekraft die Identität des Patienten, fragt nach Name, Geburtsdatum und Eingriff. Die zu operierende Seite wird entweder durch Herrn Muster selber oder durch den Stationsarzt mit einem dicken, schwarzen Stift markiert. Meist gibt es ein grosses X, manche Ärzte (vor allem Ärztinnen) machen auch gerne mal Smileys. Was wir nicht so mögen, ist, wenn Patienten noch Notizen auf ihre Gliedmassen machen, weil das gelegentlich zu Missverständnissen und Unsicherheit führt.

Ebenfalls fragt die Pflege nach Allergien und der Einhaltung der Nüchternheit, kontrolliert, ob der Schmuck ausgezogen und das Gebiss entfernt wurde. Herr Muster hat noch alle seine eigenen Zähne und er verspricht, seit 6 Stunden weder gegessen noch getrunken zu haben. Dann unterschreibt die Pflege den ersten Teil der Checkliste und bringt den Patienten zu uns.

Am Übergang vom „normalen“ Spitalbereich zum OP-Bereich warte ich schon. Eine breite Schiebetür geht auf, als die Pflege das Bett mit Herrn Muster drin abgestellt hat.

Auch ich frage zuerst nach dem Namen und dem Geburtsdatum des Patienten, nach Nüchternheit und Allergien. Ich frage, welcher Eingriff vorgenommen wird und ob die Seite markiert wurde. Häufig können Patienten gar nicht so genau sagen, was denn eigentlich gemacht wird – das erstaunt mich immer wieder. Woran das wohl liegt? Mangelndes Interesse, mangelhafte Aufklärung? Herr Muster weiss allerdings genau Bescheid: „Knieprothese auf der linken Seite.“

Nun ist soweit alles in Ordnung, und Herr Muster darf auf den schmaleren, harten OP-Tisch rutschen. Dieser ist fahrbar und wird im OP-Saal später einfach auf einen Sockel geschoben, wo er festgemacht wird.

Nun fahren wir Herrn Muster in den Vorbereitungssaal. Hier leiten wir die Narkose ein, und sobald uns die OP-Pflege das Okay gibt, schieben wir den Tisch in den Operationssaal. Die Operateure  kommen dazu, das zu operierende Körperteil wird desinfiziert und abgedeckt. Nun folgt der dritte Teil des Checks.

Wenn alle bereit sind, befiehlt der Chirurg oder die Chirurgin: „Time out!“. Das ist mein Stichwort: „Herr Muster Max, 13.08.1954, hat einen Tubus bekommen, hat von uns Cefuroxim 1.5g zur Antibiotikaprophylaxe erhalten, Allergien sind keine bekannt, Kreuzblut ist vorhanden, zwei Blutkonserven sind im Labor bereitgestellt, zuständiger Kaderarzt ist Dr. Schlafgut.“

Der Chirurg fährt fort: „Der Patient hat Arthrose im linken Knie und bekommt eine Totalprothese. Die korrekten Röntgenbilder sind aufgeschaltet. Das Bein ist markiert, ich kann das Kreuz sehen.“

Zum Schluss meldet sich die OP-Pflege: „Wir haben ein Knieprothesensieb, die Prothesen liegen bereit und sind noch nicht ausgepackt, die Saugvorrichtung und der Kauter wurden getestet und funktionieren.“

Meist kommt an dieser Stelle noch die Nachfrage des Chirurgen: „Hat der Patient die Antibiotikaprophylaxe bekommen?“ Woran das liegt, weiss ich auch nicht, vielleicht spreche ich zu schnell, er hat nicht zugehört oder hat ein sauschlechtes Kurzzeitgedächtnis. Wer weiss. Ich bestätige das dann aber nochmal, und dann folgt auch bald der Ruf „“Schnitt!“ und es geht los.

Am Ende der Operation kommt das „Sign out“. Die OP-Schwestern haben zusammen schon alle Tücher und Instrumente gezählt und auf einem Protokoll bestätigt, dass alles vorhanden ist. Ich muss aber trotzdem nochmal nachfragen, um das Häkchen auf meiner Checklisten machen zu können. Wenn der Operateur noch einen Wunsch für das postoperative Procedere hat, darf er diesen jetzt bei mir anbringen, und ich sage ihm dann, ob ich diesen erfülle, oder ob er sich dafür einen chirurgischen Assistenzarzt suchen muss. Grob gesagt mache ich keine speziellen chirurgischen Verordnungen, wie zum Beispiel Mobilisation (Bettruhe, an Gehstöcken etc), Lagerung (in der Schaumstoffschiene, in der Armschlinge etc) oder Antibiotikaprophylaxe.

Je nach Operateur klappt der letzte Teil besser oder schlechter. Einer meiner Lieblingschirurgen fragt mich jedes Mal, bevor er den Saal verlässt: „Brauchst du noch etwas von mir?“ Andere verlassen den Saal wortlos und lassen nur den Studenten oder Asistenzarzt zurück, welche dann in der Regel keine Ahnung haben, ob bestimmte Vorkehrungen nötig sind.

Die Checkliste bleibt danach bei den Patientenunterlagen eingeordnet, sodass man theoretisch jederzeit nachvollziehen könnte, ob alles seine Richtigkeit hatte.

Soviel zum ersten Teil zur Reihe „Sicherheit im Spital“! Wenn ihr Anregungen zu Themen habt, bringt die gerne in den Kommentaren an. Ich hab schon ein paar Ideen, was ich noch so aufnehmen könnte, bin aber natürlich immer sehr froh um Inputs. Auch Feedback zum Thema nehme ich sehr gerne an – ist das Thema überhaupt interessant/relevant für euch, oder ist das mehr eine Neujahrsschnapsidee?

Unerwartete Hilfe

Dank des Personalmangels treibt bei uns die Arbeit manchmal seltsame Blüten.

Ich werde für eine Liquorpunktion (LP, Hirnwasserentnahme) auf die Überwachungsstation bestellt. Vor mir sitzt ein grosser, breitschultriger Mann, der sich alle Mühe gibt, seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Daneben sitzt seine deutlich entspanntere Frau.

Ich stelle mich vor und kündige an, die Untersuchung durchzuführen. Meine erste Frage gilt dabei immer den Angehörigen: „Möchten Sie dabei bleiben oder lieber in die Cafeteria, bis es vorbei ist?“

Der Patient lacht. „Sie muss dabei sein“, grinst er, „sie hatte drei Mal eine Spinale zum Kaiserschnitt, und heute darf ich ihr das alles zurückgeben.“

Scheint mir jetzt nicht besonders fair, drei Kaiserschnitte gegen eine LP aufzuwiegen. Und eigentlich mag ich das nicht, wenn mir Angehörige dabei über die Schulter schauen. Pech gehabt.

Die nächste Frage: „Wollen Sie sitzen oder lieber liegen?“

„Sitzen geht schon“, brummt er. Ich sehe die Wahrscheinlichkeit, dass er mir zusammenklappt, etwa bei 40-60, aber im Sitzen geht die Entnahme viel schneller, also lasse ich es einfach drauf ankommen.

Eigentlich sollte ich nun an dieser Stelle Hilfe erhalten: Mindestens eine Pflegekraft, je nach Supervisionswunsch sogar ein Oberarzt sollten mir zur Seite stehen. Jemand muss mir, wenn ich steril angezogen bin, Dinge reichen. Supervision brauche ich eigentlich keine – das ist meine gefühlt tausendste LP dieses Jahr – aber je nach Oberarzt steht gerne mal jemand daneben und schaut mir zu.

Heute hat niemand Zeit. Im OP sind alle ausgelastet, und die einzige Pflegekraft auf der Überwachung hat einen Patienten, um den sie sich kümmern muss. Sie kommt kurz vorbei, um mir bei den Vorbereitungen zu helfen, springt dann aber wieder davon.

Ich setze die örtliche Betäubung. Die Ehefrau des Patienten sitzt vor ihrem Mann, leicht amüsiert, und steht immer wieder auf, um hinter den Rücken zu spienzeln, um zu sehen, was ich da mache. „Wissen Sie, ich hab ja nie zuschauen können, als man das bei mir gemacht hat, und ich bin halt neugierig“, sagt sie. Damit kann ich leben.

Immer wieder Frage ich den Patienten, ob noch alles gut sei, während ich mit der langen, stumpfen Nadel den Zugang zum Hirnwasser suche. Nach ein paar Sekunden schon gibt er keine Antwort mehr, und die Ehefrau meint „Hui, jetzt ist er ganz bleich!“

Super, und ich stehe alleine da mit einem kollabierenden Patienten.

Mit einer kurzen Handbewegung ziehe ich die Nadel aus dem Rücken, lege sie auf den sterilen Tisch und fasse mit beiden Händen an die Schultern des Patienten. Gleichzeitig rufe ich die Pflege, die zum Glück nicht weit ist. Zusammen legen wie den Patienten hin. Sein Blutdruck ist abgesackt – eine Reaktion auf den Stich, die wir „vasovagale Synkope“ nennen. Ungefährlich, aber in dieser Situation mühsam, weil ich nachher von vorn anfangen muss. Aber daran bin ich ja selbst schuld, ich hätte den Patienten auch von Anfang an hinlegen können.

Die Ehefrau nimmt’s gelassen und kichert leise in ihren Mundschutz. Die Pflege muss wider zu ihrem Patienten. Eigentlich hätte ich sie jetzt hier gebraucht, um meinen Patienten besser zu überwachen. Von hinten kann ich einfach nicht sehen, was gerade los ist, ob der Patient ansprechbar ist, wie seine Gesichtsfarbe aussieht… Das ist einfach eine blöde Situation, um alleine zu sein.

Ich beginne wieder von vorn: Ertasten der richtigen Stelle, da sich alles etwas verschiebt beim Lagewechsel, Desinfektion, Vorbereitung des Materials. Der Patient ist jetzt schön friedlich in Seitenlage und macht keinen Mucks.

Die Ehefrau übernimmt nun die Aufgabe der Pflege und stupst ihn von Zeit zu Zeit an, um ihn zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Er murmelt leise vor sich hin: „Hu, da war ich doch glatt kurz weg…“ No shit, Sherlock.

Wenigstens der Zugang geht mir leicht von der Hand. Auf Anhieb füllt sich die kleine, durchsichtige Kammer der Nadel mit dem genau so durchsichtigen Hirnwasser. Nun beginnt der mühsame Teil, nämlich das Füllen der Röhrchen.

Die Nadeln für diese Untersuchung sind sehr klein. Der Grund dafür ist, dass wir ja eigentlich ein Loch in den Spinalkanal mit dem Hirnwasser drin machen, und je grösser das Loch ist, desto eher schliesst es sich nicht richtig, und das Wasser rinnt ins umliegende Gewebe. Eine unangenehme, wenn auch sehr seltene Komplikation.

Durch die dünne Nadel tropft das Wasser aber nur sehr langsam. Im Sitzen geht das noch etwas schneller, weil da die Schwerkraft noch mitspielt, aber im Liegen bin ich froh, wenn alle paar Sekunden ein Tropfen kommt. Ich brauche mindestens 25 Tropfen in jedem der vier Röhrchen.

Die Ehefrau ist nach wie vor begeistert. Sie schaut mir interessiert zu, wie ich mit einer Hand konstant die Nadel festhalte, und mit der anderen mühselig ein Röhrchen aufschraube. Die Teströhrchen sind nicht steril, das heisst, ich muss strikte aufpassen, was ich mit welcher Hand anfasse. Und ja nie die Nadel loslassen.

Als ich 25 Tropfen habe, stelle ich das Röhrchen unverschlossen in einen Becher, und frage mich gerade, wie ich es nun möglichst effizient schaffe, das Röhrchen zu verschliessen und das nächste zu fassen, alles nur mi einer Hand, und möglichst, ohne einen Tropfen Hirnwasser zu verschwenden – da nimmt sie wie selbstverständlich das nächste Röhrchen, schraubt den Deckel ab, reicht es mir und schraubt danach das volle Röhrchen zu.

Wir wiederholen dieses Spiel noch für das dritte und vierte Röhrchen. Umsichtig schraubt sie die vollen Röhrchen zu und reicht mir die leeren, ohne dabei jemals irgendetwas anzufassen, das sie nicht sollte. Zwischendurch stupst sie ihren Göttergatten an und redet ein paar Worte mit ihm. Das reicht mir auch, um zu wissen, dass soweit noch alles okay ist. Er wirkt müde, aber entspannt, und wartet geduldig auf das Ende der Untersuchung.

Das vierte Röhrchen ist gefüllt. Ich ziehe die Nadel heraus und klebe ein Pflaster. Gemeinsam helfen wir dem Patienten, sich wieder auf den Rücken zu drehen. Danach bedanke ich mich bei der Ehefrau, die mir die ganze Zeit assistiert und dabei vollständig den Job der Pflegefachperson übernommen hat, die ich in so einer Situation eigentlich gerne an meiner Seite gehabt hätte.

Es ist nicht selbstverständlich, dass das einfach so funktioniert – im Gegenteil. Die meisten Angehörigen wollen bei der Untersuchung nicht dabei sein, oder sie ertragen den Anblick von Nadel und Blut schlecht. Nicht diese Frau. Ohne jegliche medizinische Vorkenntnisse, aber mit viel Interesse, hat sie mir das Leben erheblich leichter gemacht.

Einerseits ist das ein schönes, denkwürdiges Erlebnis für mich.

Andererseits bin ich sauer, dass so was überhaupt nötig ist. Eigentlich hätte ich lieber das nötige Personal zur Verfügung, um eine so wichtigen und mühselige Untersuchung sicher und effizient durchzuführen. Die Tatsache, dass mir eine Angehörige assistieren muss, weil sonst schlicht niemand da ist, ist ein Armutszeugnis für unser Spital und unser System.

Frohes Neues!

Ein frohes neues Jahr wünsche ich euch!

2018 war ein spannendes Jahr für mich.

59 Blogposts habe ich geschrieben, mit insgesamt 28’029 Worten! Damit könnte ich schon fast eine Doktorarbeit schreiben 😉

222 Kommentare habt ihr bei mir hinterlassen. Ich liebe eure Kommentare! Es ist immer wieder spannend, eure Sichtweise auf meine Dinge zu lesen, und freue mich jedesmal sehr, wenn ihr eure eigenen Erlebnisse mit mir teilt.

28’594 Besucher waren hier, und haben zusammen 89’797 Mal einen Beitrag gelesen!

Seit Beginn diesen Jahres werden manche meiner Posts auch auf DocCheck veröffentlicht. Die Reaktionen auf dieselben Posts hier und dort sind jeweils recht unterschiedlich, was wohl auch am sehr unterschiedlichen Publikum liegt.

Nichtsdestotrotz war das für mich ein grosser Schritt vorwärts. Bloggen war bisher für mich eine Art Ventil, ich habe das hauptsächlich für mich gemacht. Natürlich freute ich mich, wenn Beiträge bei euch gut ankommen, aber am Ende des Tages will ich mir einfach nur was von der Seele schreiben.

Dank DocCheck ist die Bloggerei jetzt eine Art kleines Zusatzeinkommen geworden. Für Texte bezahlt zu werden, ist nicht selbstverständlich. Es ist eine Ehre für mich, eine Art Auszeichnung, und ich bin stolz darauf (und dabei aber immer auch ein bisschen ungläubig).

Beruflich war 2018 eher ein Jahr der Tiefpunkte. Die interne Probleme im Spital, die schlechte Stimmung im Team, und schliesslich auch das Gefühl, nicht mehr vorwärtszukommen und auf der Stelle zu treten, haben bei mir Spuren hinterlassen.

Nun ist aber ein Ende in Sicht: Ich werde bald für eine Rotation auf die hauseigene Intensivstation wechseln, und kann dann wider viel Neues berichten. Das wird dann auch meiner Motivation wieder etwas auf die Sprünge helfen.

Ich möchte euch lieben Lesern herzlichst danken für eure Treue, eure Inputs, eure kritischen Fragen, eure Geschichten, eure Anmerkungen. Ohne euch wäre das hier eine schrecklich einsame, langweilige, witzlose Sache. Ich freue mich auf ein neues Jahr mit euch!