Brustschmerzen mal anders

Der Alarm kam kurz nach Schichtbeginn, gegen sieben Uhr morgens. Gemeldet waren Thoraxschmerzen (Schmerzen in der Brust, das ist primär immer verdächtig auf einen Herzinfarkt) bei einer älteren Dame.

Sie lebte in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. Die Szene war idyllisch, die Sonne ging grade auf, ihr kleines, hübsches Gärtchen war in Morgentau gebadet, die Stassen waren leer und ruhig. Bei der Einfahrt in ihr kleines, enges Quersträsschen verschwand ein Fuchs hinter einer Hecke.

Der RTW war schon da, und Sandra, eine Rettungssanitäterin, trat gerade aus der Haustür, als wir ausstiegen.

„Ich hab euch schon kommen gehört, eigentlich wollten wir euch grade abbestellen. Das braucht keinen Notarzt, die Frau ist stabil und das Problem scheint auch nicht das Herz zu sein. Aber Julia schreibt grade das EKG.“

Weil wir sowieso schon da sind, werfe ich einen Blick auf die Situation. Die Patientin sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa. Die Wohnung ist sauber und hübsch eingerichtet, eine für mich klassische „ältere Dame – Wohnung“ mit viel Teppich, kleinen Dekosachen in jeder Ecke, Bildern und Fotos an den Wänden. Wie aus dem Bilderbuch. Sie trägt einen dunkelrosa Morgenmantel, über die Beine hat sie zusätzlich eine sehr wahrscheinlich selbstgestrickte Decke gelegt. Gepflegt sieht sie aus, trotz der frühen Morgenstunden sind ihre Haare schön gekämmt. Sie sieht in Anbetracht der Uhrzeit deutlich wacher aus, als ich mich fühle.

Julia, die andere Rettungssanitäterin, kniet vor ihr. Das EKG ist schon angebracht, ein erster Streifen wird gerade ausgedruckt, Blutdruck wird gemessen. Das EKG ist unauffällig, der Puls eher schnell, aber noch im Normbereich, Blutdruck und Sauerstoffsättigung normal. Ich stelle mich bei der Patientin vor und begrüsse Julia, die mir sogleich einen kurzen Rapport abgibt.

Frau Winter hat Schmerzen im Brustbereich links. So, wie sie es beschreibt, ist es aber tatsächlich die Brust, die weh tut, also eher nichts Kardiales. Auf Nachfrage meinerseits sagt Frau Winter: „Da ist halt diese Wunde… Die hab ich schon seit Monaten und die will einfach nicht abheilen. Die tut mir weh.“

Wunden, die nicht heilen, versprechen schonmal nichts Gutes, und Wunden an der Brust, die nicht heilen, lassen bei mir sämtliche Alarmglocken läuten. Auch bei Julia, die mir einen bedeutungsvollen Blick zuwirft.

„Hast du den Arm schon gesehen?“, fragt sie mich. Tatsächlich ist er mir auch schon aufgefallen – er ist geschwollen, teigig. Ödematös nennen wir das. Sowas kommt auch nicht von heute auf morgen, und Frau Winter bestätigt, dass der Arm schon länger so sei.

Genau wie ich, will Julia jetzt gerne etwas mehr über diese Wunde erfahren. Frau Winter berichtet, die Wunde bestehe schon seit langem, sie heile einfach nicht ab. Sie versorge sie selber mit Gazebinden aus der Apotheke. Wenn sie die Gaze entferne, dann blute es manchmal recht stark, meint sie, „da läuft das Blut nur so runter“.

Ein paar Diagnosen kommen mir in den Sinn, eine davon drängt sich vor: Brustkrebs. Wenn jemand eine grössere Operation wegen Brustkrebs hatte, bei der auch die Lymphknoten entfernt wurden, kann es zu einer Stauung der Lymphflüssigkeit in diesem Arm kommen, was dann den Arm anschwellen lässt. Doch Frau Winter hatte noch nie eine Operation, und Brustkrebs schon gar nicht. Sie war bisher immer gesund, bis auf die Hüfte, die ihr Probleme macht, deswegen geht sie regelmässig zum Orthopäden. Beim Hausarzt war sie ewig nicht mehr.

„Können Sie uns das mal zeigen?“, fragt Julia. Die Anspannung ist fast greifbar bei uns. Wir haben beide ein schrecklich schlechtes Gefühl, eine Ahnung, was kommen wird.

Frau Winter öffnet den Morgenmantel und zieht mit Julias Hilfe das weisse Nachthemd hoch. Sie trägt einen sauberen, cremefarbenen BH, noch sieht man nichts von einer Wunde. Julia zieht den Stoff des BHs nach unten.

Wir finden die angekündigte Gaze, schön säuberlich gefaltet. Als Julia sie ein bisschen wegzupft, präsentiert sich eine grossflächige Wunde, die sich von links der Brustwarze flächenförmig bis zur Achsel ausbreitet. Ein bisschen Blut ist da, viel gelbliche Flüssigkeit, der Wundgrund ist teil rosig, teils gelblich, teils schwarz. Ich stehe über einen Meter entfernt, aber Julia verzieht für eine Millisekunde das Gesicht, als würde etwas unangenehm riechen. Nach einer knappen Sekunde der Inspektion udn einem weiteren Blick an mich klappt Julia die Gaze vorsichtig wieder zurück, rückt den BH grade, zieht das Unterhemd nach unten.

Ich schlucke leer.

Mag sein, dass Frau Winter noch nie Brustkrebs diagnostiziert bekommen hat, aber jetzt hat sie ihn sehr wahrscheinlich. Schon seit längerem, und er ist fortgeschritten. Wahrscheinlich wächst er ihr schon in die Achsel, ist metastasiert, deswegen hat sie auch die Lymphstauung im Arm.

Meist kommt es nicht soweit. Meist gehen Patientinnen viel früher zur Abklärung, oder die Gynäkologin findet was beim Routineuntersuch, lange bevor sich der Tumor so durch das Gewebe frisst. Um die Erkrankung so weit fortschreiten zu lassen, braucht es eine Art Teufelskreis: Je länger die Patientinnen warten, desto unangenehmer ist es ihnen, sie schämen sich und gehen sich erst recht nicht vorstellen, der Tumor breitet sich ungehemmt aus. So lange es nicht diagnostiziert ist, kann man es besser verdrängen, so lange ist es nicht so schlimm.

Ich will mir nicht vorstellen, wie sie sich die letzten Wochen und Monate gefühlt hat, wie lange ihre Leidenszeit schon ist. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Zeit Schmerzen und Angst.

Julia packt ihre sanfteste Stimme aus.

„Frau Winter, so eine Wunde, die so lange besteht, das ist nicht normal. Ich möchte Sie wirklich unbedingt ins Spital mitnehmen, damit sich das dort eine Gynäkologin anschaut. Wären Sie damit einverstanden? Es ist mir wirklich, wirklich wichtig.“

„Na gut, wenn Sie meinen“, antwortet Frau Winter, nach wie vor lächelnd, geduldig, fügsam. Julia hilft ihr, die wichtigsten Dinge einzupacken – Portemonnaie, Krankenkassenkarte, etwas zu Lesen, etwas zum Anziehen. Für mich gibt es hier nichts mehr zu tun, und ich verabschiede mich.

Mein Schichtleiter, der das Ganze mit Sandra zusammen aus etwas Entfernung mitverfolgt hat, meldet uns bei der Leitstelle als verfügbar für den nächsten Einsatz.

Ich sinke in den Beifahrersitz des NEF. Wir treten den Rückweg an, in die schönsten Morgensonne gebadet, schweigend.

Meine Gedanken bleiben an diesem Tag bei Frau Winter, und ich werde auch die nächsten Wochen und Monate häufiger an sie denken.

Reflexion: Notarztdienst

Vor ein paar Monaten ging ein Traum für mich in Erfüllung.

Ich habe Medizin studiert, um Notärztin zu werden. Das war von Anfang an das Ziel, die Anästhesie das Mittel zum Zweck – in der Schweiz fahren hauptsächlich Anästhesist*innen aus, also sollte dies halt mein Fachgebiet werden. Ich wollte die Action, das Drama, das Adrenalin. Leben retten. Heldin sein. Dafür habe ich 7 (manche brauchen halt ein bisschen länger) Jahre studiert, mich durch Prüfungen und langweilige Vorlesungen gequält – ich habe, meinem Empfinden nach, sehr viel da reingesteckt, um dieses Ziel zu erreichen.

Mit der Zeit bin ich bin älter und vernünftiger geworden. Action verlor den Reiz. Das Gefühl der Adrenalinausschüttung mag ich nicht, es macht mich fahrig und hektisch und meine Entscheidungen unüberlegter. Auch vom „Heldinnengedanken“ hatte ich mich schon lange verabschiedet, der hat in der Anästhesie (und wahrscheinlich in der ganzen Medizin) einfach nichts verloren. Das hat mir Sorgen gemacht: War ich überhaupt noch „wild“ genug für präklinische Notfallmedizin? Würde es mir überhaupt Spass machen?

Trotzdem, ich hatte so viel für diesen Traum gegeben, ich musste es einfach probieren. Daher hab ich an meinem jährlichen Karrieregespräch den Wunsch nach der Notarztrotation angegeben. Dank etwas Glück erhielt ich die Rotation, Beginn nur wenige Wochen später. Ich war völlig überrascht und unendlich glücklich – bis mir bewusst wurde, dass ich in wenigen Wochen als Notärztin ausfahren würde. Nun setzte die Panik ein. War ich überhaupt vorbereitet?

In Windeseile las ich Fallberichte, wälzte Lehrbücher, studierte Leitfäden, lernte Algorithmen auswendig. Ich fühlte mich absolut kein Bisschen vorbereitet, trotz inzwischen 5 Jahren relativ breiter klinischer Erfahrung und allen nötigen Vorbereitungskursen. Impostor-Syndrom par excellence.

Dann kam der erste Tag. Ein sehr netter leitender Notarzt nahm mich in Empfang und gab mir eine ausführliche Einführung in Dienstkleidung, Funk, Piepser, Ausrüstung, Essensbestellung und administrative Aufgaben.

Als wir uns das Notarzteinsatzfahrzeug, das NEF, genauer anschauten, wurde ich von Gefühlen überwältigt, allen voran das Gefühl, angekommen zu sein. Ein wichtiges Ziel erreicht zu haben. Nicht einmal an meiner Staatsexamensfeier war ich so zufrieden mit mir selbst. Ich war genau da, wo ich schon immer hinwollte. Ich hatte es geschafft.

Mit leicht feuchten Augen strich ich über den Autolack und versuchte, dies dem Kollegen zu erklären. Er grinste.

„Willst du mal reinsitzen?“

Ich nickte enthusiastisch, und er öffnete die Beifahrertür für mich. Als ich im Sitz versank, meine Gefühle wohl ziemlich offen lesbar, grinste er noch breiter, griff an mir vorbei und drückte einen Knopf. Blaues Licht leuchtete in der Garage auf. Ich hätte heulen können vor Freude. Sowas erlebt man wirklich nicht jeden Tag, und meine Freude schien den leitenden Notarzt anzustecken.

Trotz all meiner Befürchtungen fand ich mich in der neuen Funktion sehr schnell zurecht. Ich fand heraus, dass von mir weder absolutes Wissen noch Autorität verlangt wurde. Viel wichtiger war Teamwork, Kommunikation und Offenheit. Fragen durfte ich jederzeit stellen, und wenn ich mir unsicher war und dies auch so kommunizierte, wurde darauf immer eingegangen.

Ich bin hier in der komfortablen Situation, dass ich das NEF nicht selber fahren muss, ich werde meist von erfahrenen Rettungssanitäter*innen gefahren (gelegentlich aber auch durch andere, zum Beispiel die Feuerwehr). Diese RS können mich dank ihrer jahrelangen Erfahrung medizinisch unterstützen, machen aber auch den Löwenanteil an organisatorischer Arbeit. Zum Beispiel sprechen sie mit Angehörigen und zaubern Patientenverfügungen, Medikamenten- oder Diagnoselisten und andere Informationen herbei. Sie fordern weitere Mittel an, ob Feuerwehr, Polizei oder mehr RTWs wenn es mehere Verletzte gibt. Sie koordinieren, organisieren und halten dem Team den Rücken frei.

Dazu kommt die ganz unglaubliche Teamstruktur in der Präklinik. Unsere RS lieben und leben die CRM-Prinzipien. Kommunikation funktioniert in der Regel hervorragend mit closed loop und Feedback. Auch das Speak up funktioniert super, sowas kenne ich aus dem Spital gar nicht. Jeder bringt jederzeit Vorschläge an, und ich bin jeweils extrem dankbar dafür.

Wenn die RS mich dazurufen, ist das ein sehr spezielles Gefühl. Ich komme dazu und erhalte als erstes eine meist gut strukturierte, fokussierte Übergabe und dann eine klare Fragestellung, zum Beispiel „Wir habe dich gerufen, weil wir uns bezüglich X oder Y nicht sicher waren“ oder „Wir möchten Medikament Z verabreichen, aber das ist Notarztkompetenz“.

Drama, Action und Adrenalin brauche ich nicht – das Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben, gibt mir sehr viel. Wenn wir am Ende beim Debriefing alle zufrieden sind, bin ich glücklich.

Überfordert bin ich manchmal schon noch. Und natürlich gibt es die Einsätze, bei denen ich nicht sicher bin, was zu tun ist. Das ist aber auch okay, denn ich habe ja mein Team. Ich bin nie allein.

Ich liebe jede Minute hier.

Man wird ja wohl noch sterben dürfen

Es gibt so viele Dinge, die ich gerne sagen möchte. Die mir auf der Seele brennen, die ich laut herausschreien möchte, die mein Blut zum Kochen bringen. Aber zuviel aufs Mal bringt ja nix, also konzentriere ich mich mal auf einen Punkt.

Von den hunderten dämlichen, ignoranten, menschenverachtenden, egoistischen Punkten, die ich täglich irgendwo lese oder höre zur aktuellen Krise, stösst mir dieser Satz am meisten auf: „An irgendwas wird man ja wohl noch sterben dürfen.“ Dies als Totschlagargument gegen Covid-Massnahmen, welche das Ziel haben, unsere verletzlichsten, schutzbedürftigsten Mitmenschen zu schützen, Betagte und chronisch Kranke. Irgendwann sterben alle, warum nicht an Covid? Weshalb sollte man junge, gesunde Menschen einschränken, welche von dieser Krankheit nicht viel zu befürchten haben, nur um dementen 90jährigen noch ein paar hypothetische Jährchen zu verschaffen?

Nun, wer mir schon länger folgt, weiss, dass ich zum Sterben ein recht gutes Verhältnis habe. Dieses unsägliche „alles tun bis zum bitteren Ende, Lebensverlängerung um jeden Preis“ hat mir auf der Intensivstation schwer zu schaffen gemacht und mich in eine mittelgrosse Sinnkrise gestürzt, denn meiner Wahrnehmung nach darf heute nicht mehr gestorben werden.

Im Gegenteil. Jede medizinische Massnahme muss noch versucht werden, auch wenn sie maximal zur Lebens-, und schlimmstenfalls zur Leidensverlängerung dient. Sterben in Würde ist nicht mehr zeitgemäss, und ich finde das schrecklich. Man sollte sterben dürfen. Ohne Schmerzen, ohne eine Million piepender Geräte um einen herum, ausgeliefert, an unzähligen Schläuchen in sämtlichen verfügbaren Körperöffnungen und grösseren Gefässen. Im Kreis seiner Liebsten, umsorgt, an einem ruhigen Ort.

Gehen wir von einem Szenario aus, welches so nicht selten ist: Die hypothetische 90jährige von weiter oben stürzt eine Treppe hinunter und bricht sich mehrere Rippen. Sie wird ins Spital gebracht mit starken Schmerzen, sie kriegt nicht mehr genug Luft, weil das Atmen soviel Schmerzen bereitet und droht zu ersticken. Die Prognose ist schlecht, ein langfristiges Überleben wenig wahrscheinlich. Nun gibt es zwei Therapieoptionen: Aufnahme auf die Intensivstation zur Gabe von Sauerstoff, im schlimmsten Fall bis hin zur künstlichen Beatmung, mit der wahrscheinlichen Folge eines Delirs und einer Lungenentzündung und Tod nach zwei, drei Wochen Leidenszeit an einem fremden Ort. Oder Aufnahme auf die Normalstation, Gabe von Schmerzmitteln und, wenn es soweit kommt, Tod in Würde, Schmerzfreiheit und im deutlich angenehmeren Rahmen eines Einzelzimmers statt dem ständigen Lärm und Kommen und Gehen auf der Intensivstation.

Das ist ein stark vereinfachtes Szenario, natürlich, aber illustriert das Problem, vor welchem Angehörige und Ärzte in der Situation stehen: Alles tun, trotz schlechter Prognose, mit Inkaufnahme von vielen unangenehmen Komplikationen – oder Inkaufnahme eines baldigen Ablebens des Patienten. Und ja, je nach Ausgangslage ist es hier durchaus valide, meiner Meinung nach sogar richtig, zu sagen, die Patientin darf jetzt an diesem verheerenden Unfall sterben, und man macht es ihr so angenehm wie möglich. Man wird ja wohl noch sterben dürfen.

Wie ist das nun bei Covid? Einer Krankheit mit einer Mortalität von über 15% bei Patienten über 85 Jahren. Ist das nicht irgendwie dasselbe, wenn sich tausende und Millionen Menschen im Alltag einschränken müssen wegen einer Infektion, welche für sie in der Regel ungefährlich verlaufen wird? Kann man nicht einfach sagen, dann ist das hier jetzt halt Endstation für Oma, an irgendwas wäre sie eh irgendwann gestorben?

Man wird ja wohl noch an irgendwas sterben dürfen?

Nein.

NEIN.

NEIN!

Das ist NICHT dasselbe. Niemals nicht. Und alleine die Implikation davon macht mich einfach nur unglaublich wütend.

Über 85jährige kommen, wer hätte es gedacht, in allerlei Verfassungen. Manche sind sehr schlecht zuwege, auf Pflege angewiesen, polypharmaziert. Andere sind fit wie 70jährige und haben eine Lebenserwartung von vielleicht Hundert, also noch gute 15 Jahre. Oder vielleicht auch nur 10. Wer weiss? Ich nicht.

Und ihr? Ihr wisst es auch nicht.

Wie menschenverachtend ist es, auf ein Stückchen Stoff, vor der Schnauze, Abstand und regelmässiges Händewaschen verzichten zu wollen, und dabei halt den Tod tausender Menschen inkauf zu nehmen, die vielleicht noch fünf, zehn oder fünfzehn Jahre gelebt hätten? Die vielleicht eine Enkelin nie kennenlernen dürfen, nur weil ihr keinen Bock habt, unter der Maske ein bisschen zu schwitzen? Die nicht mehr ihren nächsten und übernächsten und überübernächsten Geburtstag feiern dürfen, im Kreis ihrer Familie, nur weil ihr unbedingt wieder in Clubs gehen müsst?

Wie egoistisch ist es, ein bisschen Komfort über die körperliche Integrität der älteren Generation zu stellen?

Ausserdem, wie stellt ihr euch das überhaupt vor, dieses „sterben“? Oma kriegt Covid, hustet ein bisschen, dann knipst sie das Licht aus und fertig? Kaum. Sie wird um Luft ringen, sie wird ersticken. Alleine, weil sie nicht mehr besucht werden darf, weil sie ansteckend ist. Ihre einzige Begleitung ist die Pflegekraft, die sich nebenher noch um 10 andere PatientInnen kümmern muss, und einafach nicht so viel Zet hat, um immer wieder die ganze Schutzkleidung an- und auszuziehen. Das ist ihr Tod. Kein sanftes Einschlafen. Oma stirbt alleine und unschön.

Das könnte auch deine Oma sein. Es könnte meine sein. Meine Grossmutter, die ich über alles liebe, ist über 90, fit wie ein Turnschuh, lebt selbständig mit meinem Grossvater, kann noch ihre eigenen Einkäufe und den Haushalt erledigen. Grossvater hackt Holz und geht gerne auf lange Spaziergänge, insbesondere, seit er wieder richtig gut gehen kann mit seinem neuen Knie. Sie haben ein Recht darauf, zu leben. Genau so, wie ihr.

Nein. Alte und Kranke nicht vor Covid zu schützen ist nicht dasselbe, wie Oma ein würdevolles Ableben nach ihrem schrecklichen Sturz die Treppe hinunter zu ermöglichen.

Es ist dasselbe, wie Oma die Treppe hinunterzuschubsen.

Übermüdete Ärzte? Ach wirklich?

Ein bisschen lachen musste ich schon, als ich vor einigen Monaten Headline des Tagesanzeigers las – es war aber ein eher freudloses, sarkastisches Lachen.

„Spitalpatienten aufgepasst: Der Arzt ist womöglich übermüdet“

Ach ja wirklich? Wer hätte das gedacht! Sowas aber auch!

Aber beginnen wir von vorn.

Kurz zusammengefasst berichtet der Tagi, dass Ärztinnen und Ärzte länger arbeiten, als es das Arbeitsgesetz erlaubt. Es herrsche eine Angstkultur, in der Überstunden nicht aufgeschrieben werden. Auch könne man nicht einfach aufhören oder heimgehen, wenn man müde sei, weil es eben niemanden gibt, der die Arbeit für einen übernimmt. So würden Ärztinnen und Ärzte eben auch arbeiten, wenn sie übermüdet sind, und sich eigentlich gar nicht mehr richtig konzentrieren können, was eben zu mehr Fehlern führt.

Dabei gilt zu bedenken, dass ärztliches Personal schon eine Sonderregelung bezüglich der Arbeitszeiten hat, da die meisten von ihnen vertraglich eine 50-Stunden-Woche leisten müssen. 50 Stunden ist die vorgeschriebene Wochenarbeitszeit. Das ist schon mal 8 Stunden oder fast ein Arbeitstag mehr, als der Durchschnittsarbeiter (zu denen übrigens auch die Pflege gehört) mit 42 Wochenstunden.

Was soll ich sagen ausser: Ja. Das stimmt alles. Der Arzt, der deinen Blinddarm nachts um drei operiert, ist möglicherweise schon seit morgens um 7 im OP. Die Ärztin, die deine Grossmutter mit den Schmerzen in der Brust auf dem Notfall betreut, hat möglicherweise diese Woche schon weit über 50 Stunden gearbeitet. Die Ärztin, die deine Narkose macht, hat möglicherweise letzte Nacht nur 5 Stunden geschlafen, weil sie wegen Personalmangel noch länger bleiben musste.

Wie kann das sein?

Vor kurzem sah mein Arbeitsplan folgendermassen aus:

Freitag: 15-23Uhr (8h)
Samstag: 19Uhr – Sonntag 07:15Uhr (12.25h)
Sonntag: 19Uhr – Montag 07:15Uhr (12.25h)
Montag: 22Uhr – Dienstag 07:15Uhr (9.25h)
Mittwoch: 15-23Uhr (8h)
Donnerstag: 7-15:30Uhr (8.5h)
Freitag: 7-15:15Uhr (8.25h)

Das waren laut Dienstplan ca 58h in 7 Tagen respektive 66 in 8 Tagen. Der Dienstag zählte als freier Tag, obwohl ich über 7 Stunden gearbeitet habe, aber der Nachtdienst wird dem Montag zugeordnet – so ist das Arbeitsgesetz. Überhaupt sind die aufgeführten Zeiten alle völlig arbeitsgesetzkonform und erfüllen die gesetzlichen Vorgaben.

Ich selber habe noch nie Überstunden nicht aufgeschrieben oder ausgestempelt und dann weitergearbeitet, habe aber diverse Kolleginnen, die das so machen, gerade auf der Chirurgie und der Inneren. In manchen Diziplinen wird erwartet, dass Assistenzärzt*innen an ihren freien Tagen ins Spital kommen, um bei Operationen zuzusehen. Aufschreiben dürfen sie das nicht, aber es ist oft ihre einzige Chance, überhaupt in den OP zu kommen, denn sonst machen sie nur Stationsarbeit.

Bei Internist*innen zum Beispiel ist es insbesondere die Bürokratie, welche soviel Zeit braucht. Arztbriefe, Austrittspapiere, Kostengutsprachen, Diagnosenlisten anpassen, Tagesverläufe schreiben – alles muss detailliert dokumentiert sein, aus rechtlichen Gründen. Gespräche mit Hausärzt*innen, Physiotherapeut*innen, Ergotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen, Bezugspflegepersonen fallen an.

Und dann, so am Rande – wir sind Ärzt*innen in Weiterbildung. Wir haben ein Recht auf ebendiese Weiterbildung. Tatsächlich ist es so auch festgehalten: Wir arbeiten 50 Stunden pro Woche, davon sollten 42h Arbeit und 8h Weiterbildung sein. Seien das Vorträge, Teaching am Bett durch Oberärzt*innen, interne oder auswärtige Kurse und so weiter. In aller Regel ist das Wunschdenken. Aktuell bin ich froh (und etwas überrascht), wenn ich auf eine Stunde Fortbildung pro Woche komme.

Die im Tagesanzeiger genannten Gründe für diesen Missstand – Hierarchie, Angskultur – stimmen sicher. Die Hierarchiestufen sind besonder in grossen Spitälern sehr steil, und es besteht ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis seitens uns Assistenten. Wenn wir nicht einfach ersetzbar sind – nicht für alle Stellen reihen sich die Bewerbungen – wird in Unterbesetzung gearbeitet. Pech dfür die anderen.

Auf Station ist Kontinuität wichtig. Eine Stationsärzt*in hat den Überblick über ihre Patient*innen, die Fäden laufen bei ihr zusammen, und würde sie kurzfristig durch jemand anderes vertreten, wird das Auswirkungen auf die Patientenbehandlung haben. Die Arbeit muss gründlich gemacht werden, Fehler können verheerende Auswirkungen haben, und Sorgfalt braucht Zeit.

Für mich aber am Wichtigsten: Der Kostenfaktor hält uns im eisernen Griff. Es gibt in manchen Kliniken Stationssekretär*innen, welche den Assistenzärzt*innen administrative Arbeit anehmen können. So wird die Arbeitslast reduziert, aber das kostet. Ebenso kostet es, mehr Assistenzärzt*innen einzustellen, um die Arbeitslast besser zu verteilen. Wir sind alle im Sparzwang. Die Spitallisten hängen wir ein Damoklesschwert über unseren Köpfen – wer nicht günstig genug ist, fliegt von der Liste. Die Schraube wird imemr enger angesetzt – es reicht nicht, gut dazustehen, man muss besser dastehen als die anderen, denn das Schlusslicht droht zu fliegen.

Bleibt die Frage, warum wir das mit uns machen lassen.

Pflichtbewusstsein? Angst? Die Hoffnung, dass es ja nach ein paar Jahren vorbei ist? Oder weil es uns einfach so beigebracht wurde und wir es nicht anders kennen? Weil die Gesetze nun mal so sind, und wir keine starke Lobby haben, die für uns kämpft?

Auch wenn ich mir die Frage seit fünf Jahren stelle – eine definitive Antwort habe ich nicht.

Wäre ich jedoch Patientin, würde ich mich fragen, ob ich mich wohl fühle, unter diesen Umständen behandelt zu werden – oder ob ich da mal Veränderungen fordern würde, statt dem heute vorherrschenden „ich will alles, aber es darf nichts kosten“.

Wenn ich in ein Flugzeug steige, kann ich erwarten, dass mein Pilot ausgeschlafen ist, denn die Ruhevorschriften für ihn sind recht streng. Vielleicht sollte ich dasselbe auch erwarten dürfen, wenn es um meine Gesundheit geht – und die dafür nötigen gesetzlichen Veränderungen entsprechend einfordern.

Verwirrt

In der Sprechstunde.

Ich: „Und das Zani.dip nehmen Sie für den Blutdruck?“

Patient: „NEIIIIIIN! Nein, nein, nein, das ist für was ganz Anderes!“

Oh Mist, hab ich das falsch im Kopf? Die blöden Markennamen kann ich mir nie merken. Wie peinlich!

Ich: „Oh, wofür nehmen Sie es denn?“

Er: „Für das… das Ding, also… für ähm… wissen Sie, das, was man am Oberarm misst!“

Ich: „… den Blutdruck vielleicht?

Er: „Ja, ganz genau, den meine ich.“

Na dann, zum Glück haben wir das geklärt.

Die Lungentransplantation

Ich kam zu ihr wie die Jungfrau zum Kinde. Der Dienstplaner rief mich an einem Dienstag während der Arbeit an, und fragte, ob ich am Samstag kurzfristig den Transplantations-Pikettdienst übernehmen könne. Auf meinen Einwand, ich hätte das noch nie gemacht, lachte er und sagte: „Ach, mach dir keine Sorgen – du machst das schon!“

Samstag früh um neun bekomme ich dann den Anruf von meinem Oberarzt, Tino, ich solle doch bitte in zwei Stunden auf der Matte stehen, wir würden eine Lunge transplantieren. Ich sage ihm, dass es mein erstes Mal sein würde, und er gratuliert mir zu meinem „Glück“. Glück habe ich wirklich: Tino ist einer der nettesten Oberärzte, kompetent und super im Teaching. Mit ihm zusammen wird das schon klappen.

Unser Patient ist ein knapp 60jähriger Mann mit einer schweren Lungenerkrankung, wir nennen das eine COPD GOLD 4D. Das heisst, seine Lunge ist aufgebläht und die kleinen Lungenbläschen sind zerstört. So kann der Sauerstoff nicht mehr ausreichend von der Lunge in die Blutbahn gebracht werden. Seit langer Zeit schon benötigt er konstant Sauerstoff, kann sich kaum mehr bewegen, ohne gleich völlig ausser Atem zu kommen. Er ist nur noch zuhause. Auch die Atmung selbst fällt ihm sehr schwer, er ist völlig ausgemergelt, weil das Atmen ihn soviel Energie kostet. Ansonsten ist er relativ gesund.

Wir beginnen mit der Narkose. Als der Patient schläft, gilt es, verschiedenste Zugänge zu legen. Wir haben vorhin beim Briefing schon abgesprochen, wer was macht, und alles läuft reibungslos. Meine Aufgaben sind die Intubation und dann das Legen eines Venenkatheters (ZVK, in der grossen Halsvene) und eines Lungenarterienkatheters (PAK, in der genau gleichen grossen Halsvene). Tino kümmert sich um Zugänge in der Leiste. ZVK kann ich problemlos, aber einen PAK habe ich noch nie gelegt. Nicht nur das, ich habe auch noch nie zuvor einen gesehen, aber Tino leitet mich Schritt für Schritt an und alles klappt hervorragend.

Bald darauf kann die Operation beginnen.

Wir beatmen zuerst nur die linke Lunge. Das ist möglich, weil wir einen speziellen Beatmungsschlauch gelegt haben, welcher zwei getrennte Durchgänge hat. So können wie beide Lungen separat beatmen, oder auch beide gleichzeitig, ganz nach Bedürfnissen der Chirurgen.

Zuerst wird nun der rechte Lungenflügel entfernt. Drei Chirurgen stehen am Tisch plus eine Medizinstudentin. Ein vierter Chirurg steht in der Ecke an einem Tisch und präpariert das neue, schöne Organ. Die Gefässe und Atemwehe werden sorgfältig angenäht, dann kommt mein grosser Moment, auf den ich absolut nicht gefasst war: Der erste Atemzug der neuen, rechten Lunge.

Auf Aufforderung schliesse ich einen Beatmungsbeutel an den Beatmungsschlauch der rechten Lunge. Ich stehe auf einem kleinen Podest, um über die sterilen Tücher blicken zu können. So gebe ich mit dem Beutel vorsichtig Atemstösse und kann gleichzeitig beobachten, wie sich die Lunge ausdehnt. Sie ist wunderschön anzuschauen, glatt und pink und gesund, und vor unseren Augen und unter meinen vorsichtigen Beatmungsstössen entfaltet sie sich vor unseren Augen. Alle raunen zufrieden. Nun kann ich beide Lungen wieder mit der Maschine beatmen und die Chirurgen nähen die rechte Seite zu.

Der Patient wird sauber verbunden und die sterilen Tücher weggenommen. Dann wird er auf die andere Seite gedreht, die linke Seite wird desinfiziert und abgedeckt, das Spiel beginnt von vorn.

Die Narkose selbst ist sehr unspannend. Der Patient hält sich hervorragend, braucht wenig Kreislaufmedikamente und sie Sauerstoffwerte sind auch gut, wenn wir nur eine Lunge beatmen, was nicht selbstverständlich ist. Mein Oberarzt ist am Anfang die ganze Zeit dabei, verlässt dann aber auch zwischendurch den Saal, weil er weiss, dass ich alleine klar komme. Ich rufe ihn für kritische Schritte, oder wenn ich Fragen habe. An meiner Seite habe ich inzwischen Fatma, vom Spätdienst der Anästhesiepflege. Die Pflege hat normale Schichtzeiten, Tino und ich müssen das Ganze von Anfang bis Ende durchstehen.

Irgendwann kommt Tino wieder in den Saal und sagt „Ich hab für uns Pizza bestellt, die ist jetzt im Büro. Geh essen, ich halte hier die Stellung!“

Ich wackle ins Büro und finde zwei grosse Pizzen. Als ich mich setze und mir der leckere Duft in die Nase steigt, merke ich, wie erschöpft und hungrig ich bin – das hatte ich bis anhin komplett ausgeblendet. in Blick auf die Uhr verrät mir, dass 6 Stunden vergangen sind, seit ich hier angekommen bin. Ich verschlinge Stück um Stück von der lauwarmen, fettigen Pizza, die mir in dem Moment wie das köstlichste Essen der Welt scheint, bis ich mich schliesslich selber bremsen muss. Dann schütte ich noch vier Gläser Wasser nach und gehe so gestärkt 20 Minuten später wieder in den Saal.

Die Operation verläuft problemlos, die zweite Seite fast noch besser als die erste, und wir geben den Patienten schliesslich zwar noch beatmet, aber sonst stabil auf der Intensivstation ab. Inzwischen unterstützt und schon die dritte Pflegekraft – der Nachtdienst hat seine Schicht angetreten. Ich darf 13 Stunden Arbeitszeit verbuchen, mit insgesamt etwa 40 Minuten Pause.

Tino und ich sind beide völlig erschöpft. Es war ein langer, anstrengender Tag für uns beide. Ich habe wahnsinnig viel gelernt. Dennoch frage ich mich am Ende des Tages, ob es das wert war. Nun habe ich nur noch den Sonntag frei, mein Wochenende wurde gerade halbiert. Die 13 Stunden geht jetzt einfach aufs Überstundenkonto, ich bekomme deswegen nicht noch einen zusätzlichen Tag frei oder so.

Umso mehr geniesse ich den Sonntag und bewege mich den ganzen Tag nur zwischen Couch und Kühlschrank, bevor ich am Montag in die nächste Areitswoche starte.

Die Anästhesie ist immer schuld

Die Anästhesie ist immer schuld. Soviel ist klar. Egal was schief geht, es war immer, immer die Anästhesie.

Das gilt nicht nur für die Chirurgen, deren Lieblingssündenbock wir oder wahlweise auch die Operationsassistenz sind, sondern auch für Patienten: Wenn nach der OP etwas nicht gut ist, war’s immer die Narkose.

So zum Beispiel bei Frau Brugger, 72jährig, die bei mir in der Sprechstunde sitzt für eine Augenoperation. Auf die Frage, ob sie Vollnarkosen bisher gut vertragen habe, seufzt sie theatralisch und schüttelt den Kopf.

„Also“, ereifert sie sich, „ich hatte ja eine vor drei Jahren. Das war ganz schrecklich, sage ich Ihnen! Ganz schrecklich! Die habe ich überhaupt nicht vertragen! Da haben die mir viiiiiielzuviele Medikamente gegeben! Ich war nachher noch drei, vier Tage lang richtig erschöpft!“

Ich sehe über die Akten: Die Operation war eine 12stündige Rückenoperation.

Grosse Operationen sind eine enorme Anstrengung für den Körper, und je älter man wird, desto anstrengender wird es für ihn, und desto mehr Zeit braucht er, um sich zu erholen. Daran ist aber nicht die Narkose schuld, sondern der Eingriff. Klar spielt die Narkose, beziehungsweise die Medikamente, auch eine Rolle, aber sie ist nur ein Teil des Puzzles. Das scheint manchmal nicht ganz so einfach zu verstehen sein.

Auch Herr Willi, 34jährig, schildert mir Ähnliches. Er hatte vor einem Jahr eine Operation am Schlüsselbein, welches er sich bei einem grässlichen Mountainbike-Sturz gebrochen hatte. Danach, so beschreibt er es mir, sei es ihm gar nicht gut gegangen. Er habe wochenlang Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen gehabt, ausserdem habe sein Kurzzeitgedächtnis gelitten. Er habe sich manchmal schon mittags nicht mehr erinnern können, was er zum Frühstück hatte. Fernsehen und am Computer arbeiten sei sehr mühsam gewesen. Eigentlich wolle er nie wieder eine Vollnarkose. Die sei des Teufels.

Auch hier hilft mir die Diagnoseliste weiter: Herr Willi hat sich beim Sturz ein „mittelschweres Schädelhirntrauma“ zugezogen, eine böse Gehirnerschütterung. Symptome einer Gehirnerschütterung: unter anderem Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Störungen des Kurzzeitgedächtnisses. Und auf visuelle Stimulation, sprich Fernsehen, lesen, Computer, sollte man danach eine gewisse Zeit verzichten, um das Hirn heilen zu lassen.

Frau Graber, 58jährig, hat auch grosse Angst vor Narkosen. Denn ihr Nachbar ist vor ein paar Jahren an einer gestorben, als er eine Notfalloperation am offenen Herzen hatte. Auch hier möchte ich ein „ja, aber..“ einwerfen, denn dass Operationen selbst mit ihren Risiken kommen – aus irgendeinem Grund muss man ja notfallmässig am Herzen operieren, der kam ja nicht gesund und hüpfend in den OP – ist für mich logisch, für Patienten aber natürlich nicht. Woher sollen sie das auch wissen?

Solche Geschichten erlebe ich oft, und sie stammen vor allem vom Unwissen her. Laien können sich unter Narkosen nicht viel vorstellen. Narkosen sind gruselig. Und jeder hat schonmal eine Geschichte gehört von irgendjemandem, der nach einer Narkose Probleme hatte. Sei es aus dem direkten Umfeld, aus irgendeiner Arztserie oder einem Hollywoodfilm… Narkosen haben einfach einen schlechten Ruf.

Operationen hingegen scheinen eher einen guten Ruf zu geniessen. Unters Messer legt man sich schon auch mal bereitwillig. Chirurgen werden glorifiziert – nicht immer  komplett zu unrecht, muss ich sagen, als jemand, der zwei  linke Hände hat und ein Skalpell hält, als wäre ich ein Kind mit seinen ersten Farbmalstiften.

Es macht mir denn auch nocht viel aus, im OP an allem Schuld zu sein. Raum ist zu warm. Tisch ist zu tief. Licht ist zu hell. Patient blutet zu fest. Patient atmet zu fest. Patient in Teilnarkose ist zu wach. Daran habe ich mich schnell gewöhnen müssen, und es ist mir inzwischen wirklich recht Wurscht.

Aber an allem will ich nicht Schuld sein. Für alles möchte ich nicht die Verantwortung übernehmen. Narkosen sind nicht so schlecht, wie ihr Ruf, und ich finde es natürlich unheimlich schade, dass das Fachgebiet, dem ich mich verschrieben habe, das meine Leidenschaft ist, so schlecht wegkommt.

Nicht nur sind die Medikamente, die wir benutzen, sehr gut erforscht .Wir haben auch zahlreiche (und immer mal wieder neue) Möglichkeiten, Schlaf und Vitalfunktionen zu überprüfen und tun das auch akribisch. Wir müssen eine Menge Medikamente lernen, die Funktionsweise des Körpers (auch Physiologie genannt), Anatomie, und daneben kommt noch Wissen aus anderen Fächern dazu, wie Innere Medizin, Radiologie, Chirurgie und so weiter, damit wir unsere Patienten bestmöglich versorgen können. Aber manchmal habe ich das Gefühl, Patienten denken, wir spritzen ihnen irgendwas, das grade rumliegt, und verziehen uns dann, um Kaffee zu trinken.

Vielleicht ändert sich das irgendwann mal, wer weiss. Bis dahin kann ich nur weiterhin geduldig den Patienten Verständnis entgegenbringen, erklären und versuchen, ihnen die Angst zu nehmen.

Das ist ja auch ein schöner Teil meines Jobs.

Das seltsame Bewerbungsgespräch

Im Rahmen meiner Weiterbildung zur Fachärztin Anästhesie verlangt die Schweizer Ärztegesellschaft, dass ich mehrere verschiedenen Stationen absolviere: Einerseits muss meine Ausbildung an mindestens zwei verschiedenen Spitälern stattfinden, wovon eines ein Spital der höchsten Kategorie, also ein Zentrumsspital oder Maximalversorger, ist. Ausserdem muss ich in den insgesamt fünf Jahren Ausbildung mindestens ein halbes (maximal aber ein ganzes) Jahr auf einer Intensivstation gewesen sein.

Damit war ich beim neuen Stellenantritt auf halbem Weg zum Facharzt: Zwei Jahre Anästhesie und ein halbes Jahr Intensivstation habe ich schon, fehlen noch zweieinhalb Jahre.

Ich weiss noch gut, wie nervös ich vor dem Bewerbungsgespräch war – völlig unnötig, aber sowas kann man halt nicht einfach abstellen. „Die können dich gar nicht abweisen“, sagte mir ein Kollege. „Die haben so krassen Personalmangel, die können sich nicht leisten, jemanden nicht zu nehmen, vor allem nicht jemanden wie dich, mit Erfahrung. Weisst du, wie wertvoll du für die bist? Die können dich in einen Saal stecken und du funktionierst. Minimaler Aufwand ist das für die.“

Der Kollege hatte sein Bewerbungsgespräch ein paar Monate vor mir und bekam die Stelle, also fühlte ich mich wenigstens ein bisschen besser, aber die Nervosität blieb, und stieg sogar noch etwas an, als mir mein Chef ein paar Tage vor dem Gespräch freudestrahlend mitteilte, ein leitender Arzt des Zentrumsspitals habe ihn gerade angerufen, um meine Referenzen einzuholen. Meine Bewerbung an spezifisch diesem Spital (einer Uniklinik) war die Idee meines Chefs gewesen, er hatte es mir als beste Option für meine Karriere ans Herz gelegt, und er fieberte mit mir mit und bot mir zur Üung sogar einen „Probelauf“ fürs Bewerbungsgespräch an.

Das Bewerbungsgespräch (insgesamt etwa eineinhalb Jahre vor meiner Anstellung, ist also schon eine ganze Weile her) empfand ich als seltsam.

Es begann damit, den leitenden Arzt, Professor Doktor G. Mütlich, der am Institut für die Einstellung neuer Assistenzärzte zuständig ist, nur mit Namen ansprach, weil es mir generell zu dumm ist, Titel zu sagen („Grüezi Herr Mütlich, freut mich, Sie kennenzulernen“), er mich gleichzeitig jedoch mit „Grüezi Frau Doktor Gramsel“ begrüsste – wobei ich nicht mal einen Doktortitel habe und entsprechend nur Frau Gransel bin. Wow. Massives Fettnäpfchen meinerseits. Da hatte ich schon mal das Gefühl, es sei gelaufen.

Herr Mütlich hatte offensichlich meine Unterlagen kein bisschen durchgelesen  und schien auch nicht wirklich gewillt, sie anzuschauen, obwohl sie direkt vor ihm lagen, und riet so ein bisschen ins Blaue.

„Sie sind also frisch ab Staatsexamen?“

In meinem Lebenslauf stehen alle meine vorherigen Anstellungen und das Datum meines Staatsexamens. Und hatte er nicht vor ein paar Tagen erst meine Referenzen eingeholt?

„Nein, ich habe das Examen 2015 gemacht.“

„Wo haben Sie denn studiert?“

Steht auch in meinem Lebenslauf. Hach. Aber selbstverständlich gab ich brav und höflich Antwort. Einen besonders guten Eindruck machte das bei mir nicht, und ich war etwas genervt, liess mir aber natürlich nichts anmerken. Ich wollte diese Stelle. Unbedingt.

Wir redeten ein bisschen über das Studium und meine vergangenen Arbeitsjahre, meine Erfahrungen, er fragte mich über meine erste Stelle im Feld-Wald-WiesenSpital aus. Ihm gefiel, wie breit ich dort ausgebildet wurde – wer hier schon eine Weile liest, erinnert sich vielleicht, dass ich damals auf der Chirurgie angestellt war, nachts und am Wochenende jedoch interdisziplinär arbeitete und somit auch Innere und Gynäkologie abdecken musste.

Irgendwann sprachen wir dann über die Arbeit im Zentrumsspital selbst.

„Bei uns ist Forschung ein grosser Schwerpunkt. Könnten Sie sich vorstellen, zu forschen?“

„Ja, auf jeden Fall. Ich würde gerne noch eine Dissertation machen.“

Das war gelogen. Ich will eigentlich keine Dissertation machen – ich bin der Meinung, dass Laborarbeit und Datensammeln mich, im Gegensatz zur Arbeit direkt am Patienten, nicht zu einer besseren Ärztin machen. Ich weiss aber auch, dass die allermeisten Patienten nach wie vor denken, man sei kein richtiger Arzt ohne Doktortitel. Gerade als Frau wird mir das wohl schon ein bisschen helfen in Zukunft, also habe ich mich zähneknirschend mit dem Gedanken abgefunden, vielleicht doch noch den Titel  machen zu müssen.

Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wie, Sie haben keine Dissertation? Hui, das ist aber ganz schlecht.“

Mir rutschte das Herz in die Hose. „Ganz schlecht?“, krächzte ich.

Er lachte leicht herablassend. „Naja, also für die Anstellung ist es ja Wurscht. Aber wenn Sie hier Oberärztin werden wollen, brauchen Sie schon einen Doktortitel. Und wann wollen Sie den denn machen?“

Die Gegenfrage, woher er denn wisse, dass ich hier überhaupt Oberärztin werden wolle, verkniff ich mir.

Fünf Minute später bot er mir die Stelle an und besiegelte es mit Handschlag – damit war die Anstellung rechtsgültig. Zwei Wochen später kam eine Anstellungsbestätigung mit der Post. So einfach war das.

„Wahleingriffe“ -operieren nur zum Spass?

 

Heute räume ich hier mal mit ein paar Unklarheiten bezoglich „Wahloperationen“ auf.

Am 16. März hat der Bundesrat eine Verordnung erlassen, welche besagt: „Gesundheitseinrichtungen wie Spitäler und Kliniken, Arztpraxen und Zahnarztpraxen müssen auf nicht dringend angezeigte medizinische Eingriffe und Therapien verzichten.“

Das ist nun relativ schwammig. Wer entscheidet denn, was nicht dringend ist? Das wären dann wohl die Chirurgen und die Spitalleitung. Und da Operationen meistens auch Geld in die Kasse spülen, kann man das schon recht locker interpretieren.

Deshalb hat der Kanton Zürich nachgedoppelt: Erlaubt sind demnach Eingriffe, die Kriterien erfüllen, wie zum Beispiel, dass ein Patient bleibende Schäden oder Lebensgefahr riskiert, wenn sie nicht durchgeführt werden oder sich die Lebensqualität bei einem Herauszögern deutlich verschlechtert. Ebenfalls erlaubt sind übrigens Operationen, welche die Arbeitsfähigkeit von Gesundheitspersonal wiederherstellen. Na dann.

Was ich online in den Kommentarspalten (ja echt, warum les ich die überhaupt noch, ist ja schon stressig genug grade) wieder und wieder antreffe, ist, naja, blankes, herausposauntes Unwissen darüber, was denn nun ein „Wahleingriff“ ist. Das dient natürlich zur Unterstützung der Polemik, weil irgendwo muss die Wut ja raus, und am liebsten natürlich online, wo man so richtig schön Leute beschimpfen kann. Zum Beispiel solche, welche sich „Wahleingriffen“ unterziehen, was natürlich eine total nutzlose Belastung für die Krankenkassen ist und sowieso nicht mehr bezahlt werden sollte, und geschieht denen doch recht, dass sie sich jetzt nocht mehr die Nasen und Möpse machen dürfen, gell.

Aber ihr, ihr lest hier mit, weil ihr schlau seid, und nicht auf solches Gemecker hereinfallt. Damit ihr solche Stammtischlaberer aber auch unter den Tisch argumentieren könnt, gibt es hier also für euch geballtes, wenn auch vielleicht unnützes Wissen zur Kategorisierung von Eingriffen.

Eins vorweg: Den Begriff „Wahleingriff“ streichen wir gleich aus unserem Vokabular, weil er ungenau ist, und ungenau ist in solchen Diskussionen nicht hilfreich.

Wir teilen Eingriffe mal ganz grundsätzlich in zwei Sparten ein: Notfall und Elektiv.

Notfall, das ist ja irgendwie klar. Man hat sich was gebrochen, das muss geflickt werden. Der Blinddarm ist entzündet und muss raus. Dem Opa ist eine Zehe abgefault, weil er so gern Kuchen ist, trotz seinem Diabetes, und die muss nun schnell weg bevor er sich eine Blutvergiftung zuzieht.

Man kann Notfälle noch nach Dringlichkeit unterteilen, wobei das nicht in allen Spitälern gleich gehandhabt wird. Wir haben eine Kategorie für extrem dringliche Sachen, welche innerhalb von 30 Minuten im OP sein müssen – man denke zum Beispiel an sehr grosse, blutende Gefässe. Dann solche, welche innerhalb der nächsten 6 Stunden operiert werden müssen, solche für die nächsten 12 Stunden und solche für die nächsten 24 Stunden. Je nachdem, welche Art von Notfall vorliegt.

Nun, relevant sind ja für die Diskussion die elektiven Eingriffe, welche auch „Wahleingriffe“ genannt werden. Das sind Operationen, die zeitlich nicht sehr dringlich sind – das heisst aber nicht, dass sie nicht nötig sind, oder dass der Patient nur aif seinen Wunsch und zum Spass operiert wird. Zwischen „eingerissene Milz“ und „Brustvergrösserung“ liegen noch sehr viele Graubereichoperationen, zum Beispiel gehört da die ganze Tumorchirurgie rein.

Berta hat Darmkrebs. So weit, so schlecht, das Stück Darm muss raus. Muss es heute raus? Oder morgen? Nein, natürlich nicht. Nächste Woche reicht auch noch. Oder vielleicht übernächste Woche. Aber in drei Monaten ist vielleicht zu spät, vielleicht hat der Krebs bis dahin gestreut, oder ist so fest gewachsen, dass es zum Darmverschluss kommt. Das ist eine elektive Operation. Man legt ein Datum fest – Dr. Superbauch hat noch ein freies Fenster nächsten Dienstag Berta, da kannst du kommen – und plant das so.

Auch geplante Kaiserschnitte sind elektive Operationen. Jeannette zum Beispiel braucht einen Kaiserschnitt, weil ihr Mutterkuchen am falschen Ort angewachsen ist, uns es bei einer vaginalen Geburt zu massiven Blutungen bis hin zum Tod sowohl von Kind als auch von Mama kommen kann. Sowas weiss man schon früh in der Schwangerschaft, das sieht man im Ultraschall, und die Gynäkologin plant mit Jeannette einen Kaiserschnitt. Ein formal elektiver Eingriff, trotzdem ist das nichts, was man einfach verschieben könnte. Oder streichen.

Sowohl Jeannettes als auch Bertas Eingriff sind aktuell (zu recht) erlaubt.

Natürlich gibt es reine Wunscheingriffe. Wobei man auch bei diesen nicht einfach pauschal sagen kann, sie sind nicht nötig. Beispiel: Wenn eine Frau wegen zu grosser Brüste die ganze Zeit Rückenschmerzen hat und keinen Sport treiben kann, ist die Brustverkleinerung weder frivol noch leichtherzig von der Patientin gewünscht.

Dieser Eingriff würde aktuell verschoben, genau so wie die Begradigung der Nasenscheidewand von Ruedi oder der Magenbypass von Bozena.

Für die Hobby-Empörten habe ich aber auch noch eine beruhigende Nachricht: Medizinisch nicht nötigen Eingriffe werden von der Krankenkasse nicht übernommen und somit vollständig aus eigener Tasche der Patienten bezahlt. Die Kassen sind da recht strikt, die wollen ja auch sparen, wo es nur geht. Die schauen schon, dass sie nicht zuviel bezahlen müssen, keine Angst. Die Löhne und Boni der Geschäftsleitung müssen ja schliesslich irgendwoher kommen.

So, ich hoffe, das war für einige von euch doch noch etwas Neues, und vielleicht sogar etwas Hilfreiches, wer weiss.

Bleibt schön zuhause, wenn ihr könnt, und wenn ihr nicht könnt, passt auf euch auf!

Meine Erlebnisse im und ums Spital