In meiner Sprechstunde sitzt ein junger Mann, gerade 18 Jahre alt, mit seiner Mutter. Er wurde mir von der Handchirurgin geschickt, die bei ihm einen Bruch eines Fingerknochens diagnostiziert hat und ihn am Folgetag gerne daran operieren möchte. Sie hat sich dafür eine Teilnarkose über die Vene gewünscht, wie immer.
„Haben Sie noch Fragen?“, beende ich meine Aufklärung.
„Ja, also… Kann bei dieser Operation nicht ein Nerv kapputtgehen? Oder der Knochen kaputt gehen, wenn man da was reinschraubt? Kann es sein, dass ich meinen Finger nie wieder brauchen kann?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Ich mache nur Narkosen. Das müssten Sie die Chirurgin fragen.“
„Aber, kann den dabei nicht etwas schief gehen? Kann mein Finger abfallen? Oder kann ich verbluten?“
„Wie gesagt. Zur Operation müssen Sie Ihre Chirurgin fragen. Ich mache nur Narkosen. Über Operationen weiss ich nicht besonders viel.“
Selbst wenn ich wollte – natürlich könnte ich ihm sagen, dass das alles Blödsinn ist und sein Finger ganz bestimmt nicht abfällt, weil man einen kleinen Draht in den Knochen bohrt – ich dürfte und sollte es nicht. Das ist Fischen in fremden Gewässern. Was, wenn die Chirurgin eine andere Aussage gemacht hat als ich? Wenn der Patient etwas falsch versteht? „Aber die Frau von der Narkose hat gesagt…“ Ich hör’s schon klingeln in meinem Kopf.
An einem anderen Tag spreche ich mit einem älteren Patienten über seine bevorstehende Zehenamputation. Er ist bei uns wohlbekannt, hat die bevorstehende Teilnarkose schon ein paarmal durchgemacht. Kurz vor der Unterschrift stellt mir eine Pflege seinen etwa sechzigjährigen Sohn ins Zimmer. Er ist rasend vor Wut.
„Was soll das hier?“, schreit er.
Ich weiss noch nicht so recht, was ich von der Situation halten soll, und erkläre ihm, dass wir gerade über die Teilnarkose für eine Zehenamputation gesprochen haben.
„Ja, aber warum muss man die Zehe denn nun trotzdem wegnehmen? Vor zwei Wochen hat es geheissen, das sei nicht nötig!“, braust der Sohn.
„Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen. Mir wurde die Operation vom Kollegen der Chirurgie angemeldet, ich mache nur die Narkose.“
„Das ist eine Frechheit! Es hat geheissen, man könne abwarten!“
Ich gebe auf. „Möchten Sie nochmal mit einem Chirurgen reden?“
Ein kurzes Telefon an den zuweisenden Kollegen. Die beiden düsen ab, zurück ins chirurgische Ambulatorium.
Schliesslich auch die nette ältere Dame, die am Folgetag einen Herzschrittmacher bekommen soll.
„Wie gross ist denn der Schnitt?“, will sie wissen.
„Das müssen Sie den Operateur fragen, der kann Ihnen alles zur Operation erklären.“
„Ist der Schnitt gerade? Oder schräg? Oder senkrecht?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich mache den Schnitt nicht. Fragen Sie den Kardiologen, der kommt später noch bei Ihnen vorbei.“
„Ja aber ich verstehe sowieso nicht, was der sagt.“
Warum nicht? Warum versteht sie, was ich sage, aber nicht, was der Kardiologe sagt? Ich kenne den, der ist nett und erklärt ganz wunderbar deutlich. Auch, wenn ein hilfloser Assistenzarzt ihn irgendwas Dummes zu einem EKG fragt.
„Ich mache nur die Narkose, ich kann Ihnen keine Fragen zur Operation selbst beantworten, das ist nicht mein Gebiet.“
„Ja aber Sie sind doch vom Fach!“
Nö, eben nicht. Ich bin vom Fach Anästhesie. Ich mache keine Schnitte, keine Schrauben oder Drähte, ich weiss nicht, wann Sie das erste Mal wieder Stuhlgang haben werden und auch nicht, welche Konsistenz er haben wird. Ich kann und darf mich zu solchen Sachverhalten nicht äussern, denn ich weiss nicht genug darüber, kenne nicht alle Aspekte. Ich bin der Fachidiot, und das muss so sein. Schliesslich wäre ich genauso wenig begeistert, wenn mir ein Chirurg in meine Narkose reinquatschen würde.
Manchmal hat das aber auch was Gutes: Auf dem Notfall schreit mich ein Patient an: „Ich warte hier schon ewig! Kümmern Sie sich jetzt endlich mal um mich?“
Ich lächle mein zuckersüssestes Lächeln. „Ich bin Narkoseärztin. Möchten Sie gerne eine Narkose haben?“
„NEIN!“
„Okay, dann eben nicht.“ Ich dreh mich um und gehe. Ich gehe noch einige Male an ihm vorbei, aber er spricht mich nicht nochmal an.