Es ist Sonntag. Eine ältere Dame, Frau Drelst, wird von ihren Angehörigen gebracht wegen Brustschmerzen und Übelkeit. Sie hatte erst vor einem Monat einen Herzinfarkt. Die Pflege ruft mich schon nach dem ersten Blick dazu – „Komm dir die anschauen, die sieht echt nicht gut aus“.
Frau Des kommt an den Monitor, wo ich ihre Herzkurve anschauen kann. Die sieht nicht gut aus. Der Blutdruck liegt bei 70/40 – viel zu tief – und der Puls bei 45, auch nicht grade das Gelbe vom Ei. Nach einem 12Kanal-EKG steht die Diagnose fest: AV-Block Grad 3, eine gefährliche Diagnose. Frau Drelst könnte jederzeit abstellen, oder flimmern, oder sonstwas. Ich rufe den Chef dazu und informiere Frau Drelst, ihren Ehemann und die etwas später eingetroffene Tochter darüber, dass es ernst ist und die Patientin sofort verlegt werden muss. Der Ehemann steht neben dem Bett, hält die Hand der Patientin und ist gefasst. Die Tochter hält sich nervös und zappelig im Hintergrund.
Nun geht alles ziemlich zügig. Ich organisiere den Heli und telefonier mit dem Kardiologen des Unispitals. Dem faxe ich auch gleich noch das EKG. Er bestätigt mir kurz darauf die Diagnose. Nur ca 40 Minuten nach Eintreffen der Patientin bei uns landet der Heli, eine sehr gute Zeit.
Das Team von der Flugrettung betritt das Zimmer: Rettungssanitäter, Pilot und Arzt. Sie schütteln allen die Hand. Sani, Pilot und ich kennen uns noch gut von der Wintersaison und freuen uns über das Wiedersehen. Ich muss ein wenig schmunzeln, als die Tochter beim Händeschütteln die drei Männer mit „Guten Tag Herr Doktor“ begrüsst. Das passiert dem Piloten sicher nicht alle Tage, denke ich, ist ja auch mal nett.
Ich mache die Übergabe. Ich erzähle die Patientengeschichte, zähle auf, was wir schon alles gemacht und verabreicht haben, zeige dem Notarzt Labor, EKGs und was ich sonst noch so habe. Die Patientin wird auf die Trage umgelagert und fliegt ca 10 Minuten später ab.
Ich verabschiede mich vom Ehemann, der mich müde anlächelt. „Vielen Dank, Frau Doktor.“, murmelt er, und schlurft Richtung Ausgang, um dem Heli beim Abflug zuzusehen.
Schliesslich verabschiede ich mich noch von der Tochter. Ich gebe ihr noch einmal eine kurze Zusammenfassung von der Situation und dem, was in den nächsten Tagen passieren wird. Sie ist sichtlich ungeduldig. „Ja. Danke Schwester. Tschüss.“
Normalerweise macht’s mir nichts aus, wenn man mich für die Pflege hält. Das passiert mir sicher einmal pro Woche. Manchmal korrigier ich das nicht mal, weil’s wirklich nicht so drauf ankommt. Aber hier bin ich grade noch total stolz auf mich, wie gut ich die Situation gemeistert habe, wie ruhig ich geblieben bin und wie reibungslos alles funktioniert hat. Ich habe die richtigen Untersuchungen veranlasst, die richtige Diagnose gestellt und die richtige Therapie eingeleitet. Und trotz allem bin ich nur die Schwester – sogar im Gegensatz zum Piloten, der halt der Herr Doktor ist, weil er… Na, was? Ein Mann ist?
Und übrigens, Schwester sagt man auch nicht mehr. Man darf ganz einfach den Nachnamen sagen – zum Beispiel Frau Gramsel – und als Geheimtipp: Dann fällt’s auch niemandem auf, wenn man nicht weiss, welche Funktion das Gegenüber hat.