Die Folgen des Leichtsinns

Frau Elmer ist 85 Jahre alt. Das hält sie aber nicht davon ab, noch voll am Leben teilzunehmen. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt sie noch alleine und selbständig zuhause. Um fit zu bleiben, geht sie ins Altersturnen, unternimmt Wanderungen mit ihren Seniorengruppen und geht täglich mit dem Göttergatten spazieren. Daneben kümmert sie sich auch gerne um ihre sechs Enkel. Einkaufen und Haushalt erledigt sie selbst.

Eines Morgens bricht sie auf, um mit dem Bus in die Stadt zu gehen. Sie betritt den Bus und will sich auf den erstbesten freien Platz setzen, doch dort sitzt eine junge Frau, die den Kopf schüttelt: „Da ist mein Koffer, sorry.“

Kein Problem, hinten sind ja noch mehr Plätze frei. Frau Elmer bewegt sich eine Reihe weiter nach hinten. In diesem Moment fährt der Bus los, und durch den leichten Ruck kommt die Ältere Dame ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Sie schwankt und hält sich an einer Stange fest, um wieder fest auf beiden Beinen zu stehen. Doch noch bevor die sich wieder richtig fangen kann, macht der Bus eine Vollbremsung: Ein Fussgänger wollte noch kurz vor dem anfahrenden Bus über die Strasse rennen und hat sich verschätzt.

Das ist zu viel für die zwar noch rüstige, aber eben doch nicht mehr ganz so junge Rentnerin. Sie stürzt zu Boden.

Sofort eilt ihr der Busfahrer zu Hilfe. Sie hat Schmerzen in der Brust, Schmerzen beim Atmen, Schmerzen bei jeder Bewegung. Der Busfahrer ruft eine Ambulanz und unterbricht seine Fahrt, bis der Rettungsdienst da ist. Grummelnd verlassen die anderen Passagiere den Bus und warten auf den nächsten, während Frau Elmer vom Busfahrer und einer anderen Passagierin auf einen Sitz gehievt und betreut wird.

So kommt Frau Elmer schliesslich auf meine Intensivstation. Sie hat sechs gebrochene Rippen, vier links und zwei rechts, dazu ein gebrochenes Brustbein. Da sie Blutverdünner nimmt wegen eines Vorhofflimmerns, hat sich ein grosser Bluterguss über dem Brustbein gebildet, und auch in ihre Brusthöhle hat es eingeblutet. Zum Glück nicht so stark, dass man einen Schlauch einlegen müsste, um das Blut abzusaugen, aber genug, damit sie in eine leichte Blutarmut fällt.

Rippenfrakturen werden häufig unterschätzt. Sie erfordern in der Regel keine Operation und man macht auch sonst nichts ausser Schmerztherapie – aber eben die Schmerzen sind das Problem. Sie lassen sich häufig nicht vollständig in den Griff kriegen. Besonders bei tiefer Atmung und beim Husten haben die Patienten starke Schmerzen, deshalb atmen sie oberflächlich und vermeiden es, zu husten.

Dadurch wiederum entwickelt sich häufig eine Pneumonie, und die dafür erhöhte Atemarbeit und das Abhusten des Schleims können die Patienten erst recht nicht aufbringen. Das ist dann häufig der Todesstoss.

Frau Elmer hat mehr Glück. Sie bleibt nur kurz auf der Intensivstation und verbringt danach noch fast zwei Wochen auf der Normalstation, wo die Physiotherapeuten jeden Tag mit ihr Atemtherapie durchführen. Die Schmerzmittel schlagen gut an. Sie bewegt sich viel, ich sehe sie oft in der Cafeteria und auf der Gartenterrasse, wo sie mit ihren Freundinnen zusammen in der Sonne strickt. Die Folgen des Unfalls wird sie allerdings noch lange spüren – sechs Wochen kann es dauern, bis Rippenbrüche verheilt sind, und viele Patienten haben noch lange danach Schmerzen.

Und alles nur, weil jemand sie nicht sitzen lassen wollte und jemand anderes keine fünf Sekunden warten konnte, um die Strasse zu überqueren. Aus Leichtsinn. Macht ja nichts, Bus ist ja halbleer, die Frau kann ja woanders sitzen. Macht ja nichts, muss der Bus halt kurz bremsen.

Manchmal scheint mir, Rücksicht zu üben ist heute einfach nicht mehr so zeitgemäss.