Als kleine, ahnungslose Studentin habe ich im praktischen Jahr zwei Monate auf der Inneren Medizin in einem mittelgrossen Spital verbracht. Die Stelle trat ich direkt nach drei Monaten Anästhesie in einem anderen Spital an – und da hatte ich mich so wahnsinnig wohl gefühlt, dass ich nach dem Wechsel in ein totales Motivationsloch kam. Noch heute ist Innere für mich etwas grundsätzlich Böses. Ich vergleiche Innere gern mit den Dementoren aus Harry Potter: Sie saugen alles Glück, alles Gute und Schöne aus dir raus und hinterlassen nur Leere, Schmerz und Traurigkeit. Das ist Innere für mich.
Den ersten Monat verbrachte ich auf einer internistischen Station. In der ersten Woche hatte ich eine Assistenzärztin relativ frisch ab Staatsexamen, die noch immer komplett überfordert war und sich entsprechend kaum um mich kümmern konnte. Ab der zweiten Woche war dann Rahel für mich zuständig.
Rahel war schon etwas weiter, im dritten oder vierten Assistenzjahr, glaube ich. Sie hat mich von Anfang an voll eingebunden – ein bisschen auch als Sekretärin und Dienstbotin, aber das habe ich gern für sie gemacht, weil es sich lohnte. So schrieb ich während der Visite die Verlaufseinträge, führte Telefonate mit allen möglichen Hausärzten und externen Kliniken und ging für sie ans Telefon, wenn sie gerade beschäftigt war. Dafür hatte ich schnell zwei, drei eigene Patienten, welche ich unter ihrer Supervision behandelte, was für sie einen erheblichen Mehraufwand bedeutete. Ausserdem erkannte sie schnell, dass ich nicht ganz ungeschickt mit Nadeln war und liess ihre „Connections“ bei anderen Assistenzärzten spielen, um mir möglichst viele Blutentnahmen aus Arterien zuzuschaufeln. Sie organisierte auch zwei Tage auf der Intensivstation und ein paar Lungenspiegelungen für mich – Rahel war super.
Rahel hatte es aber nicht ganz einfach. Als Frau mit klarer Linie, definierten Vorstellungen von ihrem Aufgabenbereich und von Prioritäten und vor allem der Eigenschaft, Dinge direkt anzusprechen und ihre Meinung kund zu tun, kam sie beim Chef nicht gut an. Gar nicht. Er war weder fair noch anständig zu ihr, und im ganzen Stress, der Dauerbelastung, Schlafmangel, einfach allem, was ein Stationsarzt auf der Inneren halt so hat, ging sie manchmal unter. Ich hütete ihre Telefon, wenn sie sich auf der Toilette im Büro einschloss, um zu weinen, schreien oder einfach durchzuatmen. Sie war, in meinen Augen, eine echt gute Ärztin in einem echt schlechten Umfeld. Ein Vorbild bis heute.
Rahel hat mir sehr viel beigebracht, unter anderem ihre Regeln, die einem das Arbeiten einfacher machen. Diese Regeln begleiten mich bis heute, und über so manche hab ich bereits geschrieben. Diese Regeln waren unter anderem:
- Arbeite parallel, nicht seriell. Wenn du eins nach dem anderen machst, bist du um Mitternacht noch da.
- Arbeite vorausschauend. Beginne gleich bei Eintritt, den Austrittsbericht zu schreiben, und passe ihn fortlaufend an, das gehst viel schneller, als wenn du nach einer Woche Spitalaufenthalt alles nochmal durchackern musst, weil du nicht mehr alles präsent hast. Mach heute schon alle Austrittspapiere für morgen fertig, vielleicht sogar für übermorgen. Nur für den Fall.
- Stell dich gut mit der Pflege. Gib dir extraviel Mühe damit. Wohlwollende Pflege bedeutet mehr Geduld ihrerseits, bessere Zusammenarbeit, einfachere Problemlösung (sie verpfeifen dich nicht gleich, wenn mal was nicht gut ist, sondern kommen erst mal zu dir), und gelegentlich auch mal Kaffee oder Essen, wenn sie Kuchen haben zum Beispiel.
- Beim Anfordern von Berichte oder Diagnoselisten: Sprich nicht mit der Sekretärin. Die hilft dir nicht weiter. Die will irgendwelche ausgefüllten Schweigepflichtsentbindungsformulare, oder hat keine Lust zu faxen, was auch immer. Verlange immer direkt den Dienstarzt. Der sitzt im gleichen Boot wie du und versteht, wie dringend du Infos brauchst.
- Sag auch mal nein. Zu Angehörigen, zu Patienten, zur Pflege. Zu deinen Vorgesetzten. Du musst nicht abends um Sieben ein unangekündigtes Angehörigengespräch führen, du darfst auch mal nach Hause. Und es gibt Dinge, die sehr gut jemand Anderes erledigen kann, du musst dich nicht um alles kümmern, was an dich herangetragen wird.
Diese Regeln habe ich seither versucht, zu beherzigen. Mit manchen hatte und habe ich mehr Mühe, zum Beispiel mit dem „Nein sagen“, aber alles in allem sind es sinnvolle Grundsätze, die mir die Arbeit leichter machen.
Rahel wollte Onkologin werden. Ich hoffe, sie hat es geschafft, und macht etwas, das sie glücklich macht, an einem Ort, wo sie sich wohl fühlt.