Die Genfer Deklaration ist sozusagen die moderne Variante des Hippokratischen Eids. Bei der Staatsfeier (unserer Abschlussfeier) wurde uns die Deklaration ausgehändigt, und der Text findet sich auch in unserem Jahrbuch wieder. Aktiv rezitieren mussten wir ihn allerdings nicht. Hier der Text:
Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich:
mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen.
Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.
Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.
Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren.
Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten.
Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.
Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung.
Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und
selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.
Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.
Mein Senf:
Zu „Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen.„:
Jawohl, danke. Danke fürs grundlose Zusammenstauchen und Anschreien. Danke für jede abschätzige Bemerkung („Sie wollen Psychiater werden? Ja, so kann man sein Leben auch vergeuden.“). Danke insbesondere demjenigen, der uns widerholt gesagt hat „Frauen gehören nicht ins Studium“, „Teilzeitarbeit macht den Beruf kaputt“ und „Work-Life-Balance ist eine Saumode, work is life“. Danke fürs Nicht-Teachen, fürs komplett unvorbereitete Leiten von Kursen („In welchem Jahr seid ihr? Ah im sechsten. Habt ihr schonmal eine Lunge abgehört?“) oder fürs gar nicht erst auftauchen und einen völlig überarbeiteten Assistenzarzt schicken.
Aber ernsthaft: Danke all denen, die ihren Job als Lehrer ernstgenommen haben. Die uns wertvolle Tipps für doe Zukunft gegeben haben. Die echt viel Arbeit in Vorlesungen, Handouts und interaktive Frage-Antwort-Spiele gesteckt haben. Die uns effektiv etwas beigebracht haben, anstatt ihre neuesten Forschungsergebnisse zu präsentieren.
Prinzipiell schulden wir niemandem Achtung und Dankbarkeit, die über einen normalen Respekt gegenüber eines Mitmenschen hinausgehen. Sowas muss man sich verdienen, finde ich zumindest.
Zu „Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein.„:
Da steigt schon wieder mein Blutdruck. Ja, eigentlich sollte es das. Aber es wird verunmöglicht durch das Gesundheitssystem, in dem juristische, politische und wirtschaftliche Aspekte einen höheren Stellenwert haben, als das Beste oder Sinnvollste für den Patienten, insbesondere in grossen Häusern. Geradezu lachhaft, höhnisch, herausfordernd, so ein Statement vom Staat, der mir die Zulassung erteilt und mir die Arbeit aktiv erschwert und verunmöglicht.
Zu „Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten.„:
Ja, da weiss ich jetzt auch nicht so ganz, was ich damit anfangen soll. Klingt aber für mich irgendwie hochnäsig, so vonwegen „edel“ und „Ehre“. Manchen Ärzten würde es gut tun, zwischendurch mal vom hohen Ross abzusteigen. Da schliesse ich mich auch ein. Es ist keine schlechte Sache, dass der Arztberuf nicht mehr ganz den unantastbaren Halbgott in Weiss Stellenwert von früher hat – allerdings kippt es neuerdings auch etwas ins Gegenteil. Im Zeitalter von Google und WebMD hat man ja sowieso schon alles nachgelesen und weiss ganz genau, was man hat, und sowieso, vergesst nicht die Youtube-Universität! Der Typ da in dem Video weiss sovieso viel besser Bescheid, als all die gekauften Pharma-Shills.
Zu „Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein.„:
Das wäre schön. Mancherorts ist es sogar so, aber leider nicht immer – es menschelt halt. Allerdings gibt es kein besseres Gefühl, als wenn die Kollegin bis nachts um Eins bleibt, um dir zu helfen. Oder wenn die Nachtärztin am Sonntagmorgen noch ein paar Stunden bleibt, um von ihr über Nacht aufgenommene Patienten weiter aufzugleisen, weil sie weiss, dass du allein bist und sowieso schon zuviel zu tun hast. Oder wenn der Kollege dir Schokolade bringt, weil er weiss, dass du sie jetzt gut gebrauchen kannst.
Alles in Allem fühle ich mich deutlich wohler mit diesem „Eid“ als mit dem hippokratischen. Er ist rechtlich auch nicht verpflichtend, aber eine gute Leitlinie, an die man von Zeit zu Zeit denken sollte. Reflexion, sozusagen.
Wer nun immernoch um die Ethik und Integrität der weissen Zunft bangt, der sei wenigstens versichert: Die FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum oder Swiss Medical Association, weil die Schweiz ja nicht genug Landessprachen hat, in welchen man sowas benennen könnte) hat eine Standesordnung, welche selbst auch voller ethischer und moralischer Grundsätze ist, und wer bei der FMH Mitglied ist, muss sich zwingend daran halten, sonst drohen Sakntionen wie zB hohe Bussen oder Ausschluss.