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Die Lungentransplantation

Ich kam zu ihr wie die Jungfrau zum Kinde. Der Dienstplaner rief mich an einem Dienstag während der Arbeit an, und fragte, ob ich am Samstag kurzfristig den Transplantations-Pikettdienst übernehmen könne. Auf meinen Einwand, ich hätte das noch nie gemacht, lachte er und sagte: „Ach, mach dir keine Sorgen – du machst das schon!“

Samstag früh um neun bekomme ich dann den Anruf von meinem Oberarzt, Tino, ich solle doch bitte in zwei Stunden auf der Matte stehen, wir würden eine Lunge transplantieren. Ich sage ihm, dass es mein erstes Mal sein würde, und er gratuliert mir zu meinem „Glück“. Glück habe ich wirklich: Tino ist einer der nettesten Oberärzte, kompetent und super im Teaching. Mit ihm zusammen wird das schon klappen.

Unser Patient ist ein knapp 60jähriger Mann mit einer schweren Lungenerkrankung, wir nennen das eine COPD GOLD 4D. Das heisst, seine Lunge ist aufgebläht und die kleinen Lungenbläschen sind zerstört. So kann der Sauerstoff nicht mehr ausreichend von der Lunge in die Blutbahn gebracht werden. Seit langer Zeit schon benötigt er konstant Sauerstoff, kann sich kaum mehr bewegen, ohne gleich völlig ausser Atem zu kommen. Er ist nur noch zuhause. Auch die Atmung selbst fällt ihm sehr schwer, er ist völlig ausgemergelt, weil das Atmen ihn soviel Energie kostet. Ansonsten ist er relativ gesund.

Wir beginnen mit der Narkose. Als der Patient schläft, gilt es, verschiedenste Zugänge zu legen. Wir haben vorhin beim Briefing schon abgesprochen, wer was macht, und alles läuft reibungslos. Meine Aufgaben sind die Intubation und dann das Legen eines Venenkatheters (ZVK, in der grossen Halsvene) und eines Lungenarterienkatheters (PAK, in der genau gleichen grossen Halsvene). Tino kümmert sich um Zugänge in der Leiste. ZVK kann ich problemlos, aber einen PAK habe ich noch nie gelegt. Nicht nur das, ich habe auch noch nie zuvor einen gesehen, aber Tino leitet mich Schritt für Schritt an und alles klappt hervorragend.

Bald darauf kann die Operation beginnen.

Wir beatmen zuerst nur die linke Lunge. Das ist möglich, weil wir einen speziellen Beatmungsschlauch gelegt haben, welcher zwei getrennte Durchgänge hat. So können wie beide Lungen separat beatmen, oder auch beide gleichzeitig, ganz nach Bedürfnissen der Chirurgen.

Zuerst wird nun der rechte Lungenflügel entfernt. Drei Chirurgen stehen am Tisch plus eine Medizinstudentin. Ein vierter Chirurg steht in der Ecke an einem Tisch und präpariert das neue, schöne Organ. Die Gefässe und Atemwehe werden sorgfältig angenäht, dann kommt mein grosser Moment, auf den ich absolut nicht gefasst war: Der erste Atemzug der neuen, rechten Lunge.

Auf Aufforderung schliesse ich einen Beatmungsbeutel an den Beatmungsschlauch der rechten Lunge. Ich stehe auf einem kleinen Podest, um über die sterilen Tücher blicken zu können. So gebe ich mit dem Beutel vorsichtig Atemstösse und kann gleichzeitig beobachten, wie sich die Lunge ausdehnt. Sie ist wunderschön anzuschauen, glatt und pink und gesund, und vor unseren Augen und unter meinen vorsichtigen Beatmungsstössen entfaltet sie sich vor unseren Augen. Alle raunen zufrieden. Nun kann ich beide Lungen wieder mit der Maschine beatmen und die Chirurgen nähen die rechte Seite zu.

Der Patient wird sauber verbunden und die sterilen Tücher weggenommen. Dann wird er auf die andere Seite gedreht, die linke Seite wird desinfiziert und abgedeckt, das Spiel beginnt von vorn.

Die Narkose selbst ist sehr unspannend. Der Patient hält sich hervorragend, braucht wenig Kreislaufmedikamente und sie Sauerstoffwerte sind auch gut, wenn wir nur eine Lunge beatmen, was nicht selbstverständlich ist. Mein Oberarzt ist am Anfang die ganze Zeit dabei, verlässt dann aber auch zwischendurch den Saal, weil er weiss, dass ich alleine klar komme. Ich rufe ihn für kritische Schritte, oder wenn ich Fragen habe. An meiner Seite habe ich inzwischen Fatma, vom Spätdienst der Anästhesiepflege. Die Pflege hat normale Schichtzeiten, Tino und ich müssen das Ganze von Anfang bis Ende durchstehen.

Irgendwann kommt Tino wieder in den Saal und sagt „Ich hab für uns Pizza bestellt, die ist jetzt im Büro. Geh essen, ich halte hier die Stellung!“

Ich wackle ins Büro und finde zwei grosse Pizzen. Als ich mich setze und mir der leckere Duft in die Nase steigt, merke ich, wie erschöpft und hungrig ich bin – das hatte ich bis anhin komplett ausgeblendet. in Blick auf die Uhr verrät mir, dass 6 Stunden vergangen sind, seit ich hier angekommen bin. Ich verschlinge Stück um Stück von der lauwarmen, fettigen Pizza, die mir in dem Moment wie das köstlichste Essen der Welt scheint, bis ich mich schliesslich selber bremsen muss. Dann schütte ich noch vier Gläser Wasser nach und gehe so gestärkt 20 Minuten später wieder in den Saal.

Die Operation verläuft problemlos, die zweite Seite fast noch besser als die erste, und wir geben den Patienten schliesslich zwar noch beatmet, aber sonst stabil auf der Intensivstation ab. Inzwischen unterstützt und schon die dritte Pflegekraft – der Nachtdienst hat seine Schicht angetreten. Ich darf 13 Stunden Arbeitszeit verbuchen, mit insgesamt etwa 40 Minuten Pause.

Tino und ich sind beide völlig erschöpft. Es war ein langer, anstrengender Tag für uns beide. Ich habe wahnsinnig viel gelernt. Dennoch frage ich mich am Ende des Tages, ob es das wert war. Nun habe ich nur noch den Sonntag frei, mein Wochenende wurde gerade halbiert. Die 13 Stunden geht jetzt einfach aufs Überstundenkonto, ich bekomme deswegen nicht noch einen zusätzlichen Tag frei oder so.

Umso mehr geniesse ich den Sonntag und bewege mich den ganzen Tag nur zwischen Couch und Kühlschrank, bevor ich am Montag in die nächste Areitswoche starte.

Das seltsame Bewerbungsgespräch

Im Rahmen meiner Weiterbildung zur Fachärztin Anästhesie verlangt die Schweizer Ärztegesellschaft, dass ich mehrere verschiedenen Stationen absolviere: Einerseits muss meine Ausbildung an mindestens zwei verschiedenen Spitälern stattfinden, wovon eines ein Spital der höchsten Kategorie, also ein Zentrumsspital oder Maximalversorger, ist. Ausserdem muss ich in den insgesamt fünf Jahren Ausbildung mindestens ein halbes (maximal aber ein ganzes) Jahr auf einer Intensivstation gewesen sein.

Damit war ich beim neuen Stellenantritt auf halbem Weg zum Facharzt: Zwei Jahre Anästhesie und ein halbes Jahr Intensivstation habe ich schon, fehlen noch zweieinhalb Jahre.

Ich weiss noch gut, wie nervös ich vor dem Bewerbungsgespräch war – völlig unnötig, aber sowas kann man halt nicht einfach abstellen. „Die können dich gar nicht abweisen“, sagte mir ein Kollege. „Die haben so krassen Personalmangel, die können sich nicht leisten, jemanden nicht zu nehmen, vor allem nicht jemanden wie dich, mit Erfahrung. Weisst du, wie wertvoll du für die bist? Die können dich in einen Saal stecken und du funktionierst. Minimaler Aufwand ist das für die.“

Der Kollege hatte sein Bewerbungsgespräch ein paar Monate vor mir und bekam die Stelle, also fühlte ich mich wenigstens ein bisschen besser, aber die Nervosität blieb, und stieg sogar noch etwas an, als mir mein Chef ein paar Tage vor dem Gespräch freudestrahlend mitteilte, ein leitender Arzt des Zentrumsspitals habe ihn gerade angerufen, um meine Referenzen einzuholen. Meine Bewerbung an spezifisch diesem Spital (einer Uniklinik) war die Idee meines Chefs gewesen, er hatte es mir als beste Option für meine Karriere ans Herz gelegt, und er fieberte mit mir mit und bot mir zur Üung sogar einen „Probelauf“ fürs Bewerbungsgespräch an.

Das Bewerbungsgespräch (insgesamt etwa eineinhalb Jahre vor meiner Anstellung, ist also schon eine ganze Weile her) empfand ich als seltsam.

Es begann damit, den leitenden Arzt, Professor Doktor G. Mütlich, der am Institut für die Einstellung neuer Assistenzärzte zuständig ist, nur mit Namen ansprach, weil es mir generell zu dumm ist, Titel zu sagen („Grüezi Herr Mütlich, freut mich, Sie kennenzulernen“), er mich gleichzeitig jedoch mit „Grüezi Frau Doktor Gramsel“ begrüsste – wobei ich nicht mal einen Doktortitel habe und entsprechend nur Frau Gransel bin. Wow. Massives Fettnäpfchen meinerseits. Da hatte ich schon mal das Gefühl, es sei gelaufen.

Herr Mütlich hatte offensichlich meine Unterlagen kein bisschen durchgelesen  und schien auch nicht wirklich gewillt, sie anzuschauen, obwohl sie direkt vor ihm lagen, und riet so ein bisschen ins Blaue.

„Sie sind also frisch ab Staatsexamen?“

In meinem Lebenslauf stehen alle meine vorherigen Anstellungen und das Datum meines Staatsexamens. Und hatte er nicht vor ein paar Tagen erst meine Referenzen eingeholt?

„Nein, ich habe das Examen 2015 gemacht.“

„Wo haben Sie denn studiert?“

Steht auch in meinem Lebenslauf. Hach. Aber selbstverständlich gab ich brav und höflich Antwort. Einen besonders guten Eindruck machte das bei mir nicht, und ich war etwas genervt, liess mir aber natürlich nichts anmerken. Ich wollte diese Stelle. Unbedingt.

Wir redeten ein bisschen über das Studium und meine vergangenen Arbeitsjahre, meine Erfahrungen, er fragte mich über meine erste Stelle im Feld-Wald-WiesenSpital aus. Ihm gefiel, wie breit ich dort ausgebildet wurde – wer hier schon eine Weile liest, erinnert sich vielleicht, dass ich damals auf der Chirurgie angestellt war, nachts und am Wochenende jedoch interdisziplinär arbeitete und somit auch Innere und Gynäkologie abdecken musste.

Irgendwann sprachen wir dann über die Arbeit im Zentrumsspital selbst.

„Bei uns ist Forschung ein grosser Schwerpunkt. Könnten Sie sich vorstellen, zu forschen?“

„Ja, auf jeden Fall. Ich würde gerne noch eine Dissertation machen.“

Das war gelogen. Ich will eigentlich keine Dissertation machen – ich bin der Meinung, dass Laborarbeit und Datensammeln mich, im Gegensatz zur Arbeit direkt am Patienten, nicht zu einer besseren Ärztin machen. Ich weiss aber auch, dass die allermeisten Patienten nach wie vor denken, man sei kein richtiger Arzt ohne Doktortitel. Gerade als Frau wird mir das wohl schon ein bisschen helfen in Zukunft, also habe ich mich zähneknirschend mit dem Gedanken abgefunden, vielleicht doch noch den Titel  machen zu müssen.

Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wie, Sie haben keine Dissertation? Hui, das ist aber ganz schlecht.“

Mir rutschte das Herz in die Hose. „Ganz schlecht?“, krächzte ich.

Er lachte leicht herablassend. „Naja, also für die Anstellung ist es ja Wurscht. Aber wenn Sie hier Oberärztin werden wollen, brauchen Sie schon einen Doktortitel. Und wann wollen Sie den denn machen?“

Die Gegenfrage, woher er denn wisse, dass ich hier überhaupt Oberärztin werden wolle, verkniff ich mir.

Fünf Minute später bot er mir die Stelle an und besiegelte es mit Handschlag – damit war die Anstellung rechtsgültig. Zwei Wochen später kam eine Anstellungsbestätigung mit der Post. So einfach war das.