Man wird ja wohl noch sterben dürfen

Es gibt so viele Dinge, die ich gerne sagen möchte. Die mir auf der Seele brennen, die ich laut herausschreien möchte, die mein Blut zum Kochen bringen. Aber zuviel aufs Mal bringt ja nix, also konzentriere ich mich mal auf einen Punkt.

Von den hunderten dämlichen, ignoranten, menschenverachtenden, egoistischen Punkten, die ich täglich irgendwo lese oder höre zur aktuellen Krise, stösst mir dieser Satz am meisten auf: „An irgendwas wird man ja wohl noch sterben dürfen.“ Dies als Totschlagargument gegen Covid-Massnahmen, welche das Ziel haben, unsere verletzlichsten, schutzbedürftigsten Mitmenschen zu schützen, Betagte und chronisch Kranke. Irgendwann sterben alle, warum nicht an Covid? Weshalb sollte man junge, gesunde Menschen einschränken, welche von dieser Krankheit nicht viel zu befürchten haben, nur um dementen 90jährigen noch ein paar hypothetische Jährchen zu verschaffen?

Nun, wer mir schon länger folgt, weiss, dass ich zum Sterben ein recht gutes Verhältnis habe. Dieses unsägliche „alles tun bis zum bitteren Ende, Lebensverlängerung um jeden Preis“ hat mir auf der Intensivstation schwer zu schaffen gemacht und mich in eine mittelgrosse Sinnkrise gestürzt, denn meiner Wahrnehmung nach darf heute nicht mehr gestorben werden.

Im Gegenteil. Jede medizinische Massnahme muss noch versucht werden, auch wenn sie maximal zur Lebens-, und schlimmstenfalls zur Leidensverlängerung dient. Sterben in Würde ist nicht mehr zeitgemäss, und ich finde das schrecklich. Man sollte sterben dürfen. Ohne Schmerzen, ohne eine Million piepender Geräte um einen herum, ausgeliefert, an unzähligen Schläuchen in sämtlichen verfügbaren Körperöffnungen und grösseren Gefässen. Im Kreis seiner Liebsten, umsorgt, an einem ruhigen Ort.

Gehen wir von einem Szenario aus, welches so nicht selten ist: Die hypothetische 90jährige von weiter oben stürzt eine Treppe hinunter und bricht sich mehrere Rippen. Sie wird ins Spital gebracht mit starken Schmerzen, sie kriegt nicht mehr genug Luft, weil das Atmen soviel Schmerzen bereitet und droht zu ersticken. Die Prognose ist schlecht, ein langfristiges Überleben wenig wahrscheinlich. Nun gibt es zwei Therapieoptionen: Aufnahme auf die Intensivstation zur Gabe von Sauerstoff, im schlimmsten Fall bis hin zur künstlichen Beatmung, mit der wahrscheinlichen Folge eines Delirs und einer Lungenentzündung und Tod nach zwei, drei Wochen Leidenszeit an einem fremden Ort. Oder Aufnahme auf die Normalstation, Gabe von Schmerzmitteln und, wenn es soweit kommt, Tod in Würde, Schmerzfreiheit und im deutlich angenehmeren Rahmen eines Einzelzimmers statt dem ständigen Lärm und Kommen und Gehen auf der Intensivstation.

Das ist ein stark vereinfachtes Szenario, natürlich, aber illustriert das Problem, vor welchem Angehörige und Ärzte in der Situation stehen: Alles tun, trotz schlechter Prognose, mit Inkaufnahme von vielen unangenehmen Komplikationen – oder Inkaufnahme eines baldigen Ablebens des Patienten. Und ja, je nach Ausgangslage ist es hier durchaus valide, meiner Meinung nach sogar richtig, zu sagen, die Patientin darf jetzt an diesem verheerenden Unfall sterben, und man macht es ihr so angenehm wie möglich. Man wird ja wohl noch sterben dürfen.

Wie ist das nun bei Covid? Einer Krankheit mit einer Mortalität von über 15% bei Patienten über 85 Jahren. Ist das nicht irgendwie dasselbe, wenn sich tausende und Millionen Menschen im Alltag einschränken müssen wegen einer Infektion, welche für sie in der Regel ungefährlich verlaufen wird? Kann man nicht einfach sagen, dann ist das hier jetzt halt Endstation für Oma, an irgendwas wäre sie eh irgendwann gestorben?

Man wird ja wohl noch an irgendwas sterben dürfen?

Nein.

NEIN.

NEIN!

Das ist NICHT dasselbe. Niemals nicht. Und alleine die Implikation davon macht mich einfach nur unglaublich wütend.

Über 85jährige kommen, wer hätte es gedacht, in allerlei Verfassungen. Manche sind sehr schlecht zuwege, auf Pflege angewiesen, polypharmaziert. Andere sind fit wie 70jährige und haben eine Lebenserwartung von vielleicht Hundert, also noch gute 15 Jahre. Oder vielleicht auch nur 10. Wer weiss? Ich nicht.

Und ihr? Ihr wisst es auch nicht.

Wie menschenverachtend ist es, auf ein Stückchen Stoff, vor der Schnauze, Abstand und regelmässiges Händewaschen verzichten zu wollen, und dabei halt den Tod tausender Menschen inkauf zu nehmen, die vielleicht noch fünf, zehn oder fünfzehn Jahre gelebt hätten? Die vielleicht eine Enkelin nie kennenlernen dürfen, nur weil ihr keinen Bock habt, unter der Maske ein bisschen zu schwitzen? Die nicht mehr ihren nächsten und übernächsten und überübernächsten Geburtstag feiern dürfen, im Kreis ihrer Familie, nur weil ihr unbedingt wieder in Clubs gehen müsst?

Wie egoistisch ist es, ein bisschen Komfort über die körperliche Integrität der älteren Generation zu stellen?

Ausserdem, wie stellt ihr euch das überhaupt vor, dieses „sterben“? Oma kriegt Covid, hustet ein bisschen, dann knipst sie das Licht aus und fertig? Kaum. Sie wird um Luft ringen, sie wird ersticken. Alleine, weil sie nicht mehr besucht werden darf, weil sie ansteckend ist. Ihre einzige Begleitung ist die Pflegekraft, die sich nebenher noch um 10 andere PatientInnen kümmern muss, und einafach nicht so viel Zet hat, um immer wieder die ganze Schutzkleidung an- und auszuziehen. Das ist ihr Tod. Kein sanftes Einschlafen. Oma stirbt alleine und unschön.

Das könnte auch deine Oma sein. Es könnte meine sein. Meine Grossmutter, die ich über alles liebe, ist über 90, fit wie ein Turnschuh, lebt selbständig mit meinem Grossvater, kann noch ihre eigenen Einkäufe und den Haushalt erledigen. Grossvater hackt Holz und geht gerne auf lange Spaziergänge, insbesondere, seit er wieder richtig gut gehen kann mit seinem neuen Knie. Sie haben ein Recht darauf, zu leben. Genau so, wie ihr.

Nein. Alte und Kranke nicht vor Covid zu schützen ist nicht dasselbe, wie Oma ein würdevolles Ableben nach ihrem schrecklichen Sturz die Treppe hinunter zu ermöglichen.

Es ist dasselbe, wie Oma die Treppe hinunterzuschubsen.

9 Kommentare zu „Man wird ja wohl noch sterben dürfen“

  1. Gut gebrüllt, Löwin! Ich bin da ganz Ihrer Meinung, Frau Gramsel. Sterben gehört zum Leben dazu, aber bitte mit der notwendigen Achtung und dem Respekt für die sterbende Person.

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  2. Gramsele, ich danke Dir für diesen wundervollen Beitrag.
    Ich stolpere nur über den letzten Absatz: „Alte und Kranke vor Covid zu schützen – aus Solidarität – ist nicht dasselbe, wie Oma ein würdevolles Ableben nach ihrem schrecklichen Sturz die Treppe hinunter zu ermöglichen.
    Es ist dasselbe, wie Oma die Treppe hinunterzuschubsen.“
    Muss das nicht genau umgekehrt heißen? „Alte und Kranke *nicht* solidarisch vor Covid zu schützen …“? Oder stehe ich gerade total auf dem Schlauch? Ich bin verwirrt …

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    1. Das ist richtig, das ist falsch rum. Hat mir die Editorin von DocCheck schon gesagt, aber ich hab vergessen, es zu korrigieren. Danke für den Hinweis!

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  3. Liebe Frau Gramselet
    Das ist einer der besten Beiträge, die ich seit langem zu diesem Thema gelesen habe! Respekt!
    Ich mag den Blog im Allgemeinen sehr gern. Er gibt mir als Apothekerin (ja, ich habe den Blog über Pharmama gefunden 😉 ) immer wieder interessante Einblicke in den Alltag einer Medizinerin. Und ich konnte dank dem einen oder anderen Beitrag auch schon einem Stammkunden klar machen, warum es wichtig ist, dem/der AnästhesistIn alles zu erzählen! 🙂

    Weiter so, und danke für diesen Blog!

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