Der schwierige Atemweg

Einer meiner liebsten Patienten vor einiger Zeit war Herr Maurer.

Herr Maurer kam zu uns zur Versorgung eines Nabelbruchs. An sich nichts Gefährliches. Leider wiegt Herr Maurer aber auch gute 150kg bei einer Grösse von 1.7m, und das verändert die Lage doch schon dramatisch.

Herr Maurer hat ein massiv erhöhtes Narkoserisiko in vielerlei Hinsicht. Der wichtigste Punkt dabei ist der Atemweg. Man kann bei seinem kurzen, dicken Hals, den er nicht so gut in den Nacken legen kann, und seiner knappen Mundöffnung, schon davon ausgehen, dass er schwierig zu intubieren sein wird. Konventionell, also mit dem ganz normalen Metallspatel, den man in den Hals schiebt, damit man die Stimmritze einsehen kann, wird das keiner versuchen. Eine Alternative ist ein Spatel mit eingebauter Videokamera. Allerdings muss man ihn in Narkose versetzen, um ihn damit zu intubieren.

Das ist dann auch schon der nächste Punkt: Man darf keine Patienten einschlafen lassen, bei denen man nicht sicher ist, dass man sie mit der Maske von Hand beatmen kann. Bei ihm wird die Maske schwieriger dicht zu setzen sein, es wird hohe Drücke zur Beatmung brauchen wegen des Drucks, den der ausladende Bauch ausübt, und bei hohen Drücken geht eher mal Luft in den Magen, woraufhin der Patient erbricht. Erbrochenes wiederum kann in die Lunge gelangen und dort Sauerstoffmangel und Lungenentzündungen auslösen.

Morbid adipöse Patienten haben ein verhältnismässig kleineres Lungenvolumen, kleinere Reserven, die Sauerstoffsättigung sinkt schneller, die Patienten drohen schneller zu ersticken. Sie sind während der Operation schwieriger zu beatmen. Sie haben ein erhöhtes Aspirationsrisiko – das Risiko, Mageninhalt in die Lunge zu kriegen – weil ihre Magenentleerung nicht gleich funktioniert, wie bei Normalgewichtigen. Deshalb muss man eine schnelle Einleitung machen: Schneller Schlaf, schnelle Intubation. Aber wenn man doch nicht sicher intubieren kann?

Am Rapport am Vorabend diskutieren wir den Fall lange und entscheiden uns schliesslich für das Videokameraspatel mit einem „Schnell-Intubier-Verfahren“. Die Intubation klappt, allerdings erst beim dritten oder vierten Versuch durch jemand sehr Erfahrenes. Der Hals ist angeschwollen und verschleimt, schlechte Sicht- und enge Halsverhältnisse erschweren die Intubation massiv. Wir sind alle froh, als es vorbei ist.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Wunde infiziert sich. In einer notfallmässigen Zweitoperation ein paar Tage später soll sie revidiert und ein Vakuumverband angelegt werden. Ich bespreche die Narkose mit dem Patienten und entscheide mich zusammen mit meinem Hintergrund diesmal für eine Intubation durch die Nase am wachen Patienten mithilfe eines Kameraschlauchs: Eine sogenannte wache nasale fiberoptische Intubation.

Herr Maurer weiss um seinen Gesundheitszustand und seine Risiken. Tapfer nickt er, als ich ihm den Vorgang erkläre. Angenehm wird es nicht: Man wird eine dünne Kamera in seine Nase einführen. Seinen Hals wird mit einen Lidocainspray betäubt, damit es ihn weniger reizt. Mit einer Spritze wird man durch den Hals in die Luftröhre gehen und dort ebenfalls Lidocain verspritzen. Dann wird man mit der Kamera entlang der Nase in den Rachen und von dort in die Luftröhre gehen. Sobald man die Stimmritze passiert hat, wird das Schlafmittel gespritzt und schliesslich beim schlafenden Patienten der Tubus über die Kamera als Führungsdraht eingeführt.

Auch diese Variante entpuppt sich als nicht ganz einfach. Herr Maurer bietet einfach schwierige Verhältnisse, sein Hals ist komplett zugeschwollen, kurz und irgendwie seltsam verwinkelt. Aber seine Sauerstoffversorgung ist jederzeit gewährleistet, und auch wenn er hustet und würgt, rutschen wir nie in eine kritische Situation. Zwei unserer erfahrensten Fachärztinnen schwitzen Blut und Wasser, sind aber schliesslich erfolgreich.

Zwei Tage später stehe ich erneut in seinem Zimmer. Für den Wechsel des Vakuumverbands braucht er erneut eine Vollnarkose. Er nickt niedergeschlagen, als ich sage, dass wir dasselbe Verfahren, die fiberoptische Intubation, wieder anwenden werden. Er versteht. „Es ist schrecklich unangenehm“, meint er, „aber es ist schon okay. Es muss ja sein.“

Und so ist er mir ans Herz gewachsen. Noch einige Male wurde der Verband gewechselt und Herr Maurer über die Nase intubiert, hustend, würgend, ächzend, aber er hat sich nie beklagt und immer brav stillgehalten, so gut er eben konnte. Er war immer freundlich, wenn ich bei ihm war, zugewandt, für ein Schwätzchen zu haben. Humor hatte er auch. Und Geduld, unendlich viel Geduld.

Wir waren alle froh, als die Wunde endlich definitiv verschlossen wurde, da wir befürchteten, dass die Intubation eines Tages eben doch nicht mehr gut gehen könnte. Und auch für uns ist es nicht schön anzusehen, wenn ein Patient leiden muss. Aber Sicherheit geht vor – und bei uns eben leider häufig auf Kosten des Komforts.

Dafür hat er von uns einen wunderhübschen, laminierten „Ausweis schwierige Intubation“ erhalten, den er von nun an vor jeder OP vorzeigen kann, damit auch der nächste Anästhesist Bescheid weiss.

6 Kommentare zu „Der schwierige Atemweg“

    1. Das ist wahrscheinlich von Spital zu Spital unterschiedlich. Bei uns ist es ein Kärtchen im Kreditkartenformat, auf welchem beschrieben ist, welche Probleme aufgetreten sind, welche Methode erfolgreich war und ob es möglich war, den Patienten mit der Maske zu beatmen. Diesen Ausweis zeigt man dann vor der nächsten OP der Anästhesistin und diese weiss sofort alles, was sie wissen muss. So wäre es zumindest gedacht 😉

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  1. So einen Ausweis hat mein Mann auch – obwohl er von knapp unter 100 auf 74 Kilo abgenommen hat und die OP erst nach der Gewichtsabnahme stattfand. (Und ich könnte jeden Arzt schütteln, der Schlafapnoe-Patienten wegschickt mit „nehmen Sie mal ab, dann wird das wieder“ – seine Schlafapnoe ist nämlich auch noch da, trotz Gewichtsabnahme und Fitnessaufbau).

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  2. Wie lieb – der Patient wäre mir auch ans Herz gewachsen! Hat man ja leider zu oft, dass Leute patzig werden, wenn es mal nicht einfach ist. Und auch wenn es verständlich ist unter Krankheit und Stress und gefühlt unnötigem Leid patzig zu werden, es arbeitet sich doch besser mit Verständnis.

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  3. @Nougatcornflake: Mein Mann hat seinen Ausweis immer im Portemonnaie. Es kann ja auch bei einem Unfall gut sein, wenn die Info vorliegt.

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