Herr Kunz

Herr Kunz ist 94 Jahre alt, dement und ist vom Traktor gefallen. Er hat sieben gebrochene Rippen, ein gebrochenes Handgelenk, ein gebrochenes Schlüsselbein und eine kleine Hirnblutung. Er ist in einem schlechten Zustand, hat Mühe, zu atmen. Die Demenz sowie zusätzliche Erkrankungen von Herz, Lunge und Niere verkomplizieren alles noch zusätzlich. Wir schöpfen unser ganzes Arsenal an Möglichkeiten aus, doch der Erfolg bleibt mässig. Sein Zustand verschlechtert sich von Minute zu Minute.

Wir wissen, dass es nicht mehr lange so weitergehen wird. Sein Körper wird früher oder später erschöpft sein und nicht mehr selber atmen können. Wir werden ihn intubieren und künstlich beatmen müssen, wofür wir ihn in ein künstliches Koma legen müssen. Die Medikamente werden sich negativ auf seinen ohnehin schon angeschlagenen Kreislauf und sein Herz auswirken – allein die Narkose kann ihn schon umbringen.

Die Medikamente und die schweren Verletzungen werden seine Gehirnleistung zusätzlich verschlechtern. Sollte er wieder aufwachen, wird er eher noch schlechter zuwege sein. Seine Genesung wird lange dauern, Rippenbrüche schmerzen noch wochen- bis monatelang, und er wird nicht verstehen, warum ihm alles weg tut. Er hat ein sehr hohes Risiko für ein Delir, eine durch die körperliche Erkrankung ausgelöste Psychose, welche mit zusätzlichen Koplikationen und Sterblichkeit verbunden ist.

Die künstliche Beatmung bringt ihre Risiken: Einerseits die Nebenwirkungen der Medikamente, dann aber auch die Möglichkeit einer Lungenentzündung oder anderer Infektionen. Er wird eine passable Anzahl Schläuche benötigen: Beatmungsschlauch, grosser zentraler Venenzugang für die kreislauferhaltenden Medikamente, arteriellen Zugang zur Überwachung und regelsmässigen Blutentnahme zur Kontrolle der künstlichen Beatmung, Urinkatheter und Magensonde zur künstlichen Ernährung. Jeder einzelne Schlauch bringt siene eigenen Komplikationen mit sich und trägt zum Infektionsrisiko bei.

Alles in allem haben wir einen schwerst kranken Patienten mit schlechter Prognose mit Intubation und extrem schlechter Prognose ohne Intubation, 90 Jahre alt, dement. Seinen Willen kann er nicht mehr äussern.

Deshalb besprechen wir all dies ausführlich mit der Ehefrau, dem Sohn und dessen Ehefrau. Meine Oberärztin und ich legen alles offen dar – die Schwierigkeit dabei ist, die Situation in ihrer Ernsthaftigkeit rüberzubringen ohne die Angehörigen zu sehr zu überfordern und erschrecken. Wir empfehlen ein palliatives, also symptomlinderndes Vorgehen.

Schon während dem Gespräch sehen wir, dass es in eine andere Richtung gehen wird. Insbesondere die Ehefrau ist absolut nicht bereit, Herrn Kunz gehen zu lassen – sie klammert sich an jede einzelne kleine positive Silbe.  Als ich nach dem Willen des Patienten frage, sagt sie: „Es gibt eine Patientenverfügung irgendwo, vielleicht beim Hausarzt? Aber da steht nur drin, er wolle nie an Schläuchen enden.“ Ich lege noch einmal dar, wieviele Schläuche es brauchen wird, und wie unsicher es ist, dass er davon wieder wegkommt. „Aber die Chance muss man ihm doch geben!“, findet Frau Kunz. „Das würde er doch bestimmt wollen, eine Chance, oder?“

Ihr Sohn, das spüren wir heraus, ist nicht ganz auf der gleichen Ebene, und versucht, ihr gegenzuhalten. Er scheint eher für ein palliatives Vorgehen zu sein. Doch Frau Kunz ist überfordert mit der Situation, für welche niemand je geplant hat und die nun doch plötzlich da ist. Das ist ihr gutes Recht: Sie ist in einer emotionalen Ausnahmesituation. Trauer und Angst lassen ihr keinen Platz für rationales Denken. Den meisten von uns, mir inklusive, würde es wohl ähnlich gehen.

Wir versuchen in solchen SItuationen, der Familie die Entscheidung ein Stück weit abzunehmen, denn eine solche Entscheidung sollte niemand für jemand Nahestehendes treffen müssen. Wir weisen daher im Gespräch jeweils auf die Risiken, auf die Vor- und Nachteile und auf Prognosen hin und geben eine deutliche Empfehlung ab – aber am Ende muss die Familie „an Bord“, also einverstanden, sein. Alles Andere führt zu Beschwerden, Klagen und einer Menge unschöner Gefühle. Wir verlassen das Zimmer und lassen der Familie Zeit, sich untereinander zu beraten.

Am Ende setzt sich Frau Kunz durch und entscheidet für die Intubation und die Maximaltherapie.

Wir schicken die Familie aus dem Zimmer und treffen die Vorbereitungen. Niemand von uns will das tun, weder meine Oberärztin, noch die Pflegekraft, noch ich. Für mich springt immerhin eine Intubation für den Ausbildungskatalog heraus, die jedoch einen schrecklich schalen Nachgeschmack hinterlässt.

Natürlich bricht bei der Intubation der Kreislauf zusammen. Natürlich braucht Herr Kunz hochdosierte Medikamente, um überhaupt noch Kreislauf zu haben, und erhält alle Schläuche, die ich zuvor aufgezählt habe. Natürlich machen wir alles, so gut wir können.

Herr Kunz kann ein paar Tage später wieder selbständig ohne Tubus atmen, doch die Prozedur hatte ihren Preis. Er fällt wie erwartet ins Delir, ist panisch, halluziniert, hat Schmerzen. Er bekommt starke Schmerzmittel, die ihn wiederum müde machen und seinen Verwirrtheitszustand verschlimmern, und dann natürlich Medikamente gegen das Delir, welche ihn ebenfalls etwas müder machen. Je müder er ist, desto schlechter atmet er, je schlechter er atmet, desto glücklicher sind die Bakterien in seiner Lunge, welche sich dort ungestört vermehren können.

Handgelenk und Schlüsselbein müssen nicht operiert werden – ich bin auch nicht sicher, ob unsere Chirurgen das in der Situation überhaupt getan hätten – doch das sperrige Gilet, in welchem sein Arm gefangen ist, schränkt Herrn Kunz ein, und er versteht im Delir und in der Demenz nicht, wieso. Aber wenn er Arm und Hand bewegt, hat er Schmerzen. Auch dafür versteht er den Grund nicht, egal, wie oft wir versuchtn, es ihm zu erklären. Das macht ihn wütend und verbal aggressiv.

Wir verlegen ihn schliesslich auf die Normalstation, als er kreislaufstabil ist und Delir und Schmerzen gut eingestellt sind. Die Lungenentzündung ist der nächste logische Schritt, und Herr Kunz geht ihn schon nach wenigen Tagen. Er verstirbt zwei unnötig qualvolle Wochen später.

14 Kommentare zu „Herr Kunz“

  1. Hallo,

    wieder ein Beitrag, der mich animiert, zu kommentieren.
    Ich kann nicht häufig genug betonen, wie wichtig es ist, im klaren Zustand miteinander zu sprechen. Es ist nicht einfach. Und es lässt sich nicht in 30 Minuten abwickeln. Da braucht es viele Gespräche, um rauszufinden, was man selber will und was nicht, und ob der andere (Partner, Kinder) verstanden hat, was man selbst möchte. Ideal ist es, mit einem Arzt sprechen zu können, der einem erklärt, so wie du oben schreibst, welche Konsequenzen welche medizinische Maßnahme nach sich zieht.

    Ich werde mir den Artikel ausdrucken und jedem in die Hand drücken (vorrangig meinen Eltern), die sich, trotz des Erlebens des Todes meines Mannes, sehr heftig vor so einem (oder mehreren) Gespräch drücken.

    Wie mein Vorredner schrieb: Du hast wunderbar offen geschrieben, danke dafür!

    Viele liebe Grüße von einer (nicht immer) stillen Mitleserin.

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    1. Ich erlebe das in meiner Familie genau gleich. Über den Tod nachzudenken, geschweige denn darüber zu reden, ist sehr schwierig, wenn man nie richtig damit konfrontiert war, und auch dann oft noch.
      In der Schweiz kann man sich Hilfe und Beratung holen zum Ausfüllen von Patientenverfügungen, zum Beispiel bieten das viele Hausärzte an, die FMH oder auch Stiftungen wie die ProSenectute. Da findet man online auch viele Ressourcen.
      Der Beobachter hat das übrigens auch sehr schön zusammengefasst: https://www.beobachter.ch/erwachsenenschutz/letzte-entscheide-checkliste-fur-ihre-patientenverfugung

      Ich hoffe, das hilft dir ein bisschen. Und ich freue mich übrigens immer sehr über Kommentare!

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  2. Tach auch von nördlich des Bodensees! Ich bin über Doccheck auf Dein Blog gestoßen – Respekt, daß Du es neben dem alltäglichen Arbeitsanfall schaffst, nicht nur regelmäßig, sondern auch noch dazu unterhaltsam und – so möchte ich sagen – weise Deine Erlebnisse und Gedanken uns darzulegen.

    Ethische Probleme kommen ja nun gerade in der Intensivtherapie häufiger vor, als einem lieb ist. Und ich habe aus diesem und Deinem vorigen Beitrag „Frau Wegeners letzte Reise“ bemerkt, daß Du Dich gerade dieser konfliktbeladenen Situationen sehr annimmst.

    Meine Zwofffzich an Gedanken dazu: Kommunikation ist nichts, was ein komplett angeborenes Talent wäre – man kann sie erlernen. So, wie Du die Situationen schilderst, hast Du von selbst ganz viel gute Intuition, und die Unsicherheiten, die Dir zu schaffen machen, ließen sich womöglich entsprechend mildern.
    Und ist eventuell für Dich später einmal eine Weiterbildung in Richtung Ethikberatung oder Mitarbeit in einem Ethikkomittee interessant?

    Auf jeden Fall könnte man insbesondere mit dem obigen Fall ganze Medizinethik- und Medizinrechtsvorlesungen füllen – von der Frage, ob und wie eine Patientenverfügung durch die Angehörigen berücksichtigt wird (oder auch nicht), über einen möglichen Konflikt zwischen (mutmaßlichem) Behandlungswunsch und (zweifelhafter) ärztlicher Indikation, bis zur Frage einer Therapiebegrenzung ist alles drin…

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  3. Danke für das offene Beschreiben einer so unschönen und leider absehbaren Situation. Sehr froh bin ich, dass meine Eltern (und auch ich) klare Patientenverfügungen hatten /habe. Allerdings auch erst, seit wir die Schwester meiner Großtante (mit uns nicht blutsverwandt, aber außer uns hatte sie niemanden) jahrelang dahinvegitieren sa. Gehörlos und nicht mehr in der Lage zu kommunizieren verweigerte sie die Nahrungsaufnahme. Mangels Verfügung ordnete ein Richter eine Magensonde an…
    Eine Frage habe ich jedoch – wenn lt. Aussage der Ehefrau eine Verfügung bei der Hausärztin liegt, kann man die zu einer solchen Entscheidung nicht beiziehen? Zumindest wenn die Entscheidung während der Praxisöffnungszeit getroffen werden kann…

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    1. Eine Patientenverfügung ist auf jeden Fall ein wichtiges Mittel, sofern es eben innert nützlicher Frist aufgetrieben werden kann. Wir hätten die Verfügung auf jeden Fall eingeholt – aber wie das so ist, war grade Samstag und die Praxis zu. Leider ist auch eine Patientenverfügung keine Garantie, dass solche Situationen vermieden werden können. Vielleicht wäre das Stoff für meinen nächsten Beitrag…

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      1. Ich habe tatsächlich auch schon den Fall erlebt, daß die Vorsorgebevollmächtigten sich nicht an die Patientenverfügung gehalten haben, weil sie erkannt haben wollten, daß der Patient sie durch Gesten widerrufen habe. Das hat das Behandlerteam zwar anders gesehen, und ich persönlich hatte den Eindruck, daß unabhängig vom Patientenwillen auch die ärztliche Indikation infrage zu stellen gewesen wäre, aber es wurde (mit Ausnahme einer Dialyse) eine ausgedehnte Therapie einschließlich invasiver Beatmung gefahren. Am Ende hat der Patient den Beteiligten die Entscheidung, ihn in eine Beatmungspflegeeinrichtung zu verlegen, „abgenommen“, weil er vorher verstorben ist, aber es war insgesamt ein bizarres Schauspiel. Möchte ich nicht wieder in absehbarer Zeit erelben.

        NB: Ich könnte mir übrigens Dich auch gut mit einer palliativmedizinischen Zusatzweiterbildung vorstellen. – Soviel Kompliment mußte dann doch noch mal sein.

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      2. Ich erlebe tatsächlich häufig, dass Patientenverfügungen nicht so richtig eingehalten werden – von Angehörigen, aber auch gelegentlich von Ärzten. Besonders manche Chirurgen haben die Tendenz, nicht so richtig loslassen zu können.
        Palliativmedizin interessiert mich tatsächlich! Ich habe so die (wahrscheinlich etwas naive, romantische) Vorstellung, dass dort noch Medizin mit „Augenmass“ gemacht wird, Patientenzentriert, man macht wirklich nur noch das, was dem Patienten gut tut und was er wirklich will und braucht. Vielleicht mache ich da irgendwann mal eine Rotation und schau mir das genauer an. Danke für das Kompliment 🙂

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  4. Na ja, wie Du eventuell schon vermutet haben könntest, oute ich mich mal als Palliativmediziner (mit Hintergrund Strahlentherapie und einer Anästhesiologin-Chefin). Die Besonderheit in unserer Abteilung ist, daß wir keine eigenen Betten haben, sondern als Konsiliardienst arbeiten. Das kann schon einmal bedeuten, daß die anfordernde Abteilung nicht immer das umsetzt, was wir für „richtig“ halten. Aber grundsätzlich, so meine Erfahrung, ist es so, wie Du es schilderst (und ich habe das auch bei Hospitationen auf Palliativstationen erlebt), mit Zeit für den Patienten, Fokussierung auf seine Bedürfnisse und Augenmaß – „high person, low technology“. Die technischen Verfahren und die Medikation sind eigentlich ziemlich unkompliziert.

    Die Sache mit dem Patientenwillen und den Chirurgen, ja das ist zum Teil sogar dann ein Problem, wenn der Patient noch einwilligungsfähig ist. Ein ziemlich krasses Beispiel aus dem letzten Jahr: Ein deutlich über 90jähriger Patient mit einem Gefäßverschluß des Beines und Nekrose des Fußes. Kausale Therapie: Amputation. Der Patient wollte das nicht und hat sich klar entschieden, eine reine Palliation zu wollen bei Schmerzen und sicher eintretender Sepsis. Der Gefäßchirurg ging die Wände hoch… Nachdem das ganze wieder heruntergekocht war, kam es zu einem klärenden Gespräch, in dem der Kollege (ganz in Sauerbruchs Tradition) feststellte, daß er eine solche Patientenentscheidung niemals akzeptieren könne.
    Ich meine, ich habe auch schon (in der Strahlentherapie) Entscheidungen von Patienten erlebt, die mir die Haare zu Berge haben stehen lassen (vor allem bei völlig verqueren Begründungen), aber wenn ich mit einer solchen Entscheidung nicht umgehen kann, dann sollte ich mich aus der Angelegenheit herausziehen und sie einem Kollegen übergeben…

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    1. Den palliativen/anästhesiologischen Konsildienst haben wir auch! Auch bei uns hat der keine eigene Station, was hin und wieder schon zu interessanten Fällen geführt hat. So bekam ich irgendwann eine Patientin auf meine Station bei der ich nicht wusste, was ich mit der guten Frau soll! Ich meine, ok, das akute Problem hieß „Rückenschmerzen“ und diese werden bei uns grundsätzlich erst einmal orthopädisch einsortiert… aber die Dame hatte hochpalliative Rückenschmerzen (von Scheitel bis Zeh durchmetastasiert bei CUP, wahrscheinlich dermatologisch oder so), zusätzlich eine Leukämie + diverse andere internistische Probleme. Außerdem war die Frau nahezu bettlägerig und daher fast nicht zu mobilisieren. Grundsätzlich hab ich für die Frau nur Konsilverwaltung gespielt: Schmerzkonsil ansetzen, mit der Chefin der Anästhesie darüber reden und umsetzen, mit meiner (sonst keine Palliativpatienten betreuenden) Pflege diskutieren, dass – ja – die Opiatdosierung wirklich so hoch sein soll. Internistisches Konsil ansetzen und umsetzten damit das fragile Gleichgewicht aus Erkrankungen und Medikamenten nicht spontan die Decke hoch geht. Das ganze täglich wiederholen, da unser System keine Wiederholungskonsile/konsiliarische Betreuung von Patienten vorsieht (vorsteinzeitliches Computerkonsil). Zudem etwa alle 2-3 Tage vom Labor angerufen werden, dass die Werte nicht mit dem Leben vereinbar seien. Ja, weiß ich, aber ich kann da jetzt auch nix mehr machen. Retten werden wir die Frau in diesem Leben nicht mehr nur hoffentlich nach hause entlasen… aber ohne Laborwerte weiß die Internistin auch nicht, ob die Dame uns jetzt akut um die Ohren fliegt. Ende war tatsächlich wider Erwarten gut: Nach zwei Wochen war die gute Dame leidlich mobilisiert und mit einem neuen Schmerztherapieschema versehen nach hause entlassen worden. Auch wenn ich am Ende das Gefühl hatte an ihrem Fall gewachsen zu sein (persönliche Reife und so), für meine chirurgische Station war die Frau auch mit beiden Augen zudrücken nix…

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      1. Ach… falls es aus meinem Beitrag nicht ersichtlich wurde: Ich finde den anästhesiologischen/palliativen Konsildienst richtig, richtig toll! Die Chefin der Anästhesie hat super Arbeit geleistet, aber manchmal denke ich schon, dass sie für manche Fälle eigene Betten brauchen…

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